Das Versteck
dämlich grinsender Idiot frei herumlief, sondern ein gerissener, gefährlicher und – im wahrsten Sinne des Wortes – irrsinnig kranker Mensch.
Sie waren alle hereingelegt worden.
Jonas hätte nicht beweisen können, daß Jeremys Debilität nur gespielt war, mußte in seinem Innersten aber bekennen, daß er sich absichtlich hatte täuschen lassen. Er hatte den neuen Jeremy akzeptiert, weil er, um es genau zu sagen, nicht den Mut aufbrachte, sich dem anderen Jeremy, dem Mörder von Marion und Stephanie, zu stellen. Der erdrückendste Beweis für seine Mittäterschaft an Jeremys Täuschungsmanöver lag darin, daß er keine Computertomographie angeordnet hatte, um den Grad der Hirnschädigung festzustellen. Die bloße Tatsache einer solchen Verletzung genügte, die Ursache war nebensächlich, hatte er sich damals eingeredet. Eine für einen Arzt undenkbare Reaktion und doch nicht so unvorstellbar bei einem Vater, der mit dem Monstrum in seinem Sohn nicht konfrontiert werden wollte.
Und jetzt lief dieses Monster frei herum. Er konnte es nicht beweisen, aber er wußte es. Jeremy war irgendwo da draußen. Der alte Jeremy.
Zehn Monate lang hatte er nacheinander durch drei verschiedene Detekteien nach seinem Sohn fahnden lassen, weil er sich in moralischer, nicht in gesetzlicher Hinsicht für den Jungen und seine Straftaten verantwortlich fühlte. Die ersten beiden Agenturen waren erfolglos geblieben und schließlich zu dem Schluß gelangt: Wenn man keine Spur aufnehmen konnte, gab es auch keine Spur. Der Junge, hieß es in ihrem Bericht, sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tot.
Der dritte Detektiv, Morton Redlow, war ein Ein-Mann-Betrieb. Er kam nicht so großspurig daher wie die großen Agenturen, dafür besaß Redlow die Zähigkeit einer Bulldogge, und das ließ Jonas hoffen. Letzte Woche erst hatte Redlow angedeutet, daß er eine heiße Spur verfolgte und am Wochenende Näheres sagen könnte.
Seither wartete Jonas auf ein Lebenszeichen von dem Detektiv. Auch auf die Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter hatte Redlow nicht reagiert.
Jonas wandte sich vom Computer und dem Vortrag ab, auf den er sich doch nicht konzentrieren konnte, nahm den Telefonhörer von der Gabel und wählte die Nummer des Detektivs. Wieder lief der Anrufbeantworter. Bevor Jonas jedoch Namen und Adresse hinterlassen konnte, brach die Verbindung ab. Die Aufnahmekassette in Redlows Anrufbeantworter war voll und hatte selbsttätig abgeschaltet.
Jonas beschlich eine böse Ahnung.
Er legte den Hörer zurück, stand auf und trat ans Fenster. Er war schrecklich niedergeschlagen und glaubte nicht, daß der wunderbare Ausblick ihm in irgendeiner Weise helfen würde, aber zumindest wollte er es versuchen. Jeder Tag hielt neue Schrecken und Ängste für ihn bereit, so daß er jede Art von Hilfsmittel brauchte, um nachts überhaupt schlafen und morgens aufstehen zu können.
Die Morgensonne wob silberne Fäden in die auflaufenden Wellen und verwandelte das Meer in ein einzigartiges blaugraues Gewebe mit metallischen Mustern.
Er versuchte sich einzureden, daß Redlows Bericht erst ein paar Tage überfällig war, weniger als eine Woche. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Daß er nicht zurückrief, konnte auch bedeuten, daß er krank war oder persönliche Probleme hatte.
Aber Jonas wußte es. Er war sich ganz sicher. Redlow hatte Jeremy ausfindig gemacht und den Jungen, trotz aller Warnungen, grob unterschätzt.
Eine Jacht mit weißen Segeln kreuzte vor der Küste. Große weiße Möwen segelten hinterher, gingen im Sturzflug auf die Wellen nieder und tauchten wieder auf, ihre Fischbeute im Schnabel. Mit ihrem eleganten und unbeschwerten Flug boten die Vögel einen wunderbaren Anblick, nur nicht für die Fische. Für die Fische nicht.
Lindsey ging in ihr Atelier, das zwischen ihrem und Reginas Schlafzimmer lag. Sie rückte den Hocker von der Staffelei vor ihr Zeichenbrett, schlug ihr Skizzenheft auf und machte sich Gedanken über ihr nächstes Bild.
Es schien richtig und wichtig, daß sie sich auf ihre Arbeit konzentrierte, und das nicht nur, weil schon der eigentliche Akt des Malens die Seele besänftigte, sondern auch, weil das Festhalten an alltäglicher Routine ihr die einzige Möglichkeit bot, die irrationalen Kräfte zu bändigen, die wie eine dunkle Sturzflut in ihr Leben brandeten. Nichts konnte wirklich ganz und gar danebengehen – wirklich? –, wenn sie nur weiterhin malte, ihren schwarzen Kaffee trank, drei
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