Das Versteck
Mahlzeiten am Tag einnahm, Geschirr spülte, sich vor dem Zubettgehen die Zähne putzte, morgens duschte und ihr Deo benutzte. Wie sollte eine mörderische Bestie aus dem jenseits in ein geordnetes Leben einbrechen können? Ganz bestimmt besaßen Ghule und Geister, Unholde und Ungeheuer keine Macht über Leute, die ordentlich gewaschen und gekämmt, deodoriert und fluorisiert, richtig gekleidet und ernährt, gut beschäftigt und motiviert waren.
Zumindest redete sie sich das ein. Ihre zittrige Hand mit dem Zeichenstift verriet das Gegenteil.
Honell war tot.
Cooper war tot.
Ihr Blick wanderte immer wieder zum Fenster, als erwartete sie die Spinne dort zu sehen. Doch da huschte weder eine kleine schwarze Kugel am Rahmen entlang, noch gab es ein neues Spinnennetz in der Fensterecke. Da war nur Glas mit Baumwipfeln und blauem Himmel dahinter.
Nach einer Weile kam Hatch herein, umarmte sie von hinten und drückte ihr einen Kuß auf die Wange.
Er war jedoch keineswegs romantisch gestimmt, sondern legte eine Pistole auf ihre Kommode. »Steck sie ein, wenn du rausgehst. Er wird allerdings nicht bei Tageslicht kommen, das weiß ich. Ich spüre es. Zum Teufel! Als ob er ein Vampir oder so was Ähnliches ist. Ein wenig Vorsicht kann nicht schaden, besonders, wenn du allein im Haus bist.«
Sie zögerte, nickte dann. »In Ordnung.«
»Ich werde eine Weile unterwegs sein, muß was besorgen.«
»Besorgen?« Sie drehte sich auf ihrem Hocker nach ihm um.
»Wir haben nicht genug Munition.«
»Beide Patronenrahmen sind voll.«
»Außerdem will ich noch eine Schrotflinte kaufen.«
»Hatch! Selbst wenn der Kerl kommt, was ich bezweifle, sind wir hier nicht im Krieg. Wenn jemand in dein Haus ein dringt, fallen ein oder zwei Schüsse, aber es ist keine offene Feldschlacht.«
Hatch hatte eine harte, unnachgiebige Miene aufgesetzt. »Eine gute Schrotflinte ist die einzig richtige Waffe zur Selbstverteidigung. Du mußt nicht einmal besonders gut schießen können. Die Schrotladung erwischt ihn. Ich weiß auch schon, welche Flinte ich nehme, mit kurzem Lauf, Pistolengriff mit …«
Sie drückte ihm die flache Hand auf die Brust und unterbrach ihn. »Hör auf damit. Du machst mir angst.«
»Das ist gut. Wenn wir Angst haben, sind wir eher auf der Hut und verhalten uns vorsichtiger.«
»Wenn du wirklich meinst, daß wir in Gefahr sind, sollten wir Regina nicht hier im Haus behalten.«
»Wir können sie unmöglich ins Heim zurückschicken.« Hatchs Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, als hätte er bereits Überlegungen angestellt.
»Nur bis alles vorbei ist.«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Regina ist zu sensibel, das weißt du doch. Sie ist so dünnhäutig und zieht gern voreilig die falschen Schlüsse. Den kleinsten Einwand würde sie bereits als Zurückweisung empfinden. Wir hätten keine Möglichkeit, ihr die Gründe zu erklären, und sie würde uns vielleicht keine zweite Chance mehr geben.«
»Ich bin sicher, sie …«
»Außerdem brauchten wir eine plausible Erklärung für das Heim. Wenn wir uns eine Lügengeschichte ausdenken – und ich wüßte nicht, wie –, würden sie dahinterkommen und sich fragen, warum wir sie anlügen. Sie würden im nachhinein ihre Zustimmung zur Adoption bereuen. Und wenn wir ihnen dann die Wahrheit gestehen und was über Visionen und telepathische Verbindungen zu einem wahnsinnigen Mörder faseln, sind wir erst recht untendurch bei ihnen, und sie würden uns Regina nie mehr anvertrauen.«
Er hatte sich wirklich alles gut überlegt.
Lindsey sah ein, daß er recht hatte.
Hatch hauchte ihr einen Kuß auf die Stirn. »Ich bin in einer Stunde zurück, spätestens in zwei.«
Als er gegangen war, stand Lindsey noch eine Weile sinnend vor der Waffe.
Verdrossen wandte sie sich schließlich ab und nahm den Zeichenstift zur Hand. Sie riß das oberste Blatt vom Zeichenbrett. Das neue Blatt war leer. Weiß und unberührt. Und so blieb es auch.
Lindsey nagte nervös an ihrer Unterlippe und blickte zum Fenster. Kein Spinnennetz. Keine Spinne. Nur eine blanke Fensterscheibe. Dahinter Baumwipfel und blauer Himmel.
Bis heute hatte sie nicht geahnt, daß ein makellos blauer Himmel bedrohlich wirken konnte.
Die vergitterten Schlitze im Dach der Bodenkammer dienten zur Belüftung. Sie ließen nicht viel Helligkeit durch, der schwache Hauch kühler Morgenluft brachte nur eine Ahnung von Tageslicht mit herein.
Das Licht störte Vassago auch nicht, denn er hatte sein Lager inmitten
Weitere Kostenlose Bücher