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Das Versteck

Das Versteck

Titel: Das Versteck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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viel später darauf kam, war er von dem egoistischen Gedanken besessen, dem Jungen, wenn er erwachte – falls er je aus dem Koma erwachte –, ein Motiv für sein abnormes Verhalten zu entlocken, das allen anderen Forschern in der Geschichte der Menschheit bisher entgangen war. Vielleicht hielt er sich für besonders geeignet dank seiner einmaligen Erfahrung mit einem wahnsinnigen Vater und einem geistesgestörten Sohn: Schließlich hatte der eine ihn schwer verwundet und zur Waise gemacht, der andere zum Witwer. Auf jeden Fall bezahlte er die Privatklinik. Und jeden Samstagnachmittag verbrachte er am Bett seines Sohnes und betrachtete das blasse friedliche Gesicht, in dem er soviel von sich selbst wiederfand.
    Nach zehn Monaten erlangte Jeremy das Bewußtsein zurück. Das Sprachzentrum seines Gehirns war beschädigt, er konnte weder lesen noch sprechen, wußte seinen Namen nicht mehr und auch nicht, wie er hierher gekommen war. Sein Spiegelbild betrachtete er wie das eines Fremden, und auch seinen Vater erkannte er nicht. Als die Polizei ihn vernahm, zeigte er weder Anzeichen von Schuld noch des Verstehens. Er war als Idiot wiedergeboren, seine geistigen Fähigkeiten auf ein Minimum reduziert, unfähig, sich länger auf etwas zu konzentrieren, und schnell verwirrt.
    Mit Gesten machte er deutlich, daß er unter heftigen Augenschmerzen litt und extrem lichtempfindlich war. Eine augenärztliche Untersuchung ergab eine seltsame, in der Tat unerklärliche Degeneration der Regenbogenhaut in beiden Augen. Die elastische Membran schien teilweise zerfressen. Der Muskel, der die Pupille verengen sollte, um den Lichteinfall zu reduzieren, war verkümmert. Außerdem war der Dilatator pupillae, der Erweiterer, geschrumpft, und so blieb die Regenbogenhaut weit offen. Darüber hinaus war der Muskel mit dem Nerv verschmolzen, so daß auch eine nervliche Steuerung nicht mehr möglich war. So einen Fall hatte es noch nie gegeben, mit einer weiteren Verschlimmerung mußte gerechnet werden. Ein chirurgischer Eingriff war unmöglich. Sie setzten dem Jungen eine Sonnenbrille mit Seitenschutz und tiefdunklen Gläsern auf. Selbst mit der Brille aber verbrachte er den hellen Tag lieber in Räumen mit Metalljalousien oder schweren Vorhängen vor den Fenstern.
    Jeremy machte sich schnell beliebt beim gesamten Personal der Rehabilitationsklinik, in die er später verlegt wurde. Er tat ihnen vor allem wegen seiner Augen leid, weil er so ein hübscher Junge war und ein schweres Los tragen mußte. Zudem benahm er sich jetzt so rührend, schüchtern wie ein Kind – eine Folge seines IQ-Schwunds –, und seine frühere Arroganz, sein kaltes Kalkül und die offene Feindseligkeit waren völlig verschwunden.
    Über vier Monate lang wanderte er in der Klinik herum, half den Schwestern mit einfachen Arbeiten, mühte sich erfolglos mit einem Sprachtherapeuten ab, starrte nachts stundenlang aus dem Fenster, aß mit genügend Appetit, nahm zu und trainierte abends im abgedunkelten Fitneßraum. Sein magerer Körper setzte wieder Fleisch und Muskeln an, und das strohtrockene Haar gewann seinen Glanz zurück.
    Ungefähr vor zehn Monaten, als Jonas sich schon Gedanken machte, wo er Jeremy unterbringen konnte, wenn die Heilgymnastik und die Bewegungstherapie sich erschöpft hatten, war der Junge verschwunden. Obwohl er nie Anstalten gemacht hatte, aus dem Klinikgelände auszubrechen, war er eines Nachts unbemerkt aus dem Haus geschlüpft und nie mehr zurückgekommen.
    Jonas hatte erwartet, daß die Polizei Jeremy schnell aufgreifen würde. Aber sie fahndeten ja nur nach einem Vermißten, nicht nach einem mutmaßlichen Mörder. Wäre Jeremy voll und ganz wiederhergestellt gewesen, hätten sie ihn als Gefahr und als vor dem Gesetz Flüchtigen behandelt, seine offenkundige Debilität verschaffte ihm jedoch eine Art Immunität. Jeremy war nicht mehr dieselbe Person, die die Straftaten begangen hatte; angesichts seiner verminderten geistigen Fähigkeiten, seines Sprach-Unvermögens und seiner entwaffnenden Naivität hätte kein Gericht ihn jemals verurteilt.
    Eine Vermißtenfahndung war sowieso keine richtige Fahndung. Die Polizeikräfte wurden für dringendere Fälle und ernsthaftere Delikte eingesetzt.
    Obwohl die Polizei davon ausging, daß der Junge weggelaufen, den falschen Leuten in die Hände gefallen war und bereits tot sein mußte, stand für Jonas fest, daß sein Sohn noch am Leben war. Und tief in seinem Herzen wußte er auch, daß nicht etwa ein

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