Das Versteck
Regina!
Sie tastete nach der obersten Schublade ihrer Kommode und erschauerte, als sie den kalten Metallgriff der Lade in der Hand fühlte.
Die Spiegelung in ihrem Fenster zeigte Lindsey, daß der Killer nicht mehr am Türrahmen lehnte, sondern nun in die offene Tür trat. Mit der größten Dreistigkeit blieb er stehen und musterte sie, schien den Augenblick auszukosten. Er bewegte sich ungewöhnlich leise. Hätte sie sein Spiegelbild im Fenster nicht entdeckt, wäre sie völlig ahnungslos gewesen.
Behutsam zog sie die Schublade auf und tastete darin nach der Waffe.
Er überschritt die Türschwelle.
Mit einer einzigen Bewegung riß sie die Pistole hervor, schnellte auf ihrem Drehstuhl herum, brachte die schwere Waffe in Anschlag und hielt sie mit beiden Händen fest auf den Kerl gerichtet. Sie wäre kein bißchen überrascht gewesen, wenn er nicht dagestanden und ihre erste Vermutung sich bestätigt hätte, daß es nur eine Spiegelung in der Fensterscheibe war. Aber er stand tatsächlich vor ihr, einen Schritt von der Tür entfernt, als sie ihn mit der Pistole anvisierte.
»Keine Bewegung, du Dreckskerl«, schrie sie.
Ob er nun irgendeine Schwäche in ihr vermutete oder sich einfach nicht darum scherte, ob sie auf ihn feuerte oder nicht, auf jeden Fall wich er vor ihr zurück.
»Halt, verdammt noch mal.«
Er war fort. Lindsey hätte ohne zu zögern auf ihn geschossen, ohne jeden Skrupel, doch er bewegte sich mit solch affenartiger Geschwindigkeit, daß sie höchstens den Türrahmen getroffen hätte.
Sie rief nach Hatch, katapultierte sich gleichzeitig von ihrem Hocker zur Tür und sah gerade noch einen schwarzen Schuh, den linken Fuß des Killers, verschwinden. Sie bremste sich rechtzeitig ab, weil ihr einfiel, daß er hinter der Tür versteckt sein könnte, um sie, wenn sie in Panik herausgeschossen kam, von hinten zu überfallen, ihr einen Schlag über den Schädel zu geben oder sie über das Treppengeländer zu werfen. Regina. Sie durfte keine Zeit verlieren. Womöglich hatte er es auf Regina abgesehen. Sie zögerte nur eine Sekunde, dann durchbrach sie ihre Angst und flog durch die offene Tür, während sie Hatch um Hilfe rief.
Zu ihrer Rechten sah sie den Kerl auf dem Weg zu Reginas Zimmertür, die am unteren Ende des Flurs ebenfalls offenstand. In dem Zimmer, wo Regina Schularbeiten machen sollte, brannte kein Licht. Lindsey hatte keine Zeit, stehenzubleiben und sorgfältig zu zielen. Sie wollte einfach abdrücken in der Hoffnung, daß eine der Kugeln den Kerl irgendwie treffen würde. Aber Reginas Zimmer war so dunkel, das Mädchen konnte sonstwo sein. Lindsey befürchtete, danebenzuschießen und statt dessen mit einer der herumfliegenden Kugeln das Mädchen zu treffen. Also drückte sie nicht ab, sondern lief hinter dem Kerl her und brüllte nun Reginas anstelle von Hatchs Namen.
Der Kerl verschwand in Reginas Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu, daß das ganze Haus bebte. Den Bruchteil einer Sekunde später hatte Lindsey die Tür erreicht, prallte von ihr ab.
Verriegelt. Hatch rief nach ihr – Gott sei Dank, er lebte, er lebte –, dennoch drehte sie sich nicht nach ihm um. Sie ging einen Schritt zurück und trat gegen die Tür, trat noch einmal dagegen. Die Tür hatte nur ein einfaches Schloß, es müßte leicht aufzubrechen sein. War es aber nicht.
Lindsey setzte gerade zu einem neuen Versuch an, als der Killer durch die Tür sprach. Seine erhobene Stimme klang nicht zu laut, drohend, aber beherrscht, ohne Panik oder Furcht, geschäftsmäßig, erschreckend sanft und ruhig: »Gehen Sie von der Tür weg, oder ich bringe das kleine Aas um.«
Kurz bevor Lindsey seinen Namen zu rufen begann, saß Hatch in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und hielt das Kunstmagazin in beiden Händen. Die Vision traf ihn wie ein elektrischer Schlag, es knisterte, als ob Funken sprühten und das Magazin in Wirklichkeit ein Starkstromkabel war, das er mit bloßen Händen festhielt.
Er sah Lindsey mit dem Rücken zu ihm auf ihrem Malhocker vor dem Zeichenbrett sitzen und an einer Skizze arbeiten. Plötzlich war es gar nicht mehr Lindsey, sondern eine andere Frau, größer, auch mit dem Rücken zu ihm sitzend, doch nicht auf einem Hocker. Sie saß in einem Sessel in einem anderen Zimmer in einem fremden Haus. Der Faden, mit dem sie strickte, kam von einem hellen Wollknäuel in einem Körbchen neben ihrem Sessel. Hatch betrachtete sie als »Mutter«, obwohl sie überhaupt keine Ähnlichkeit mit seiner
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