Das Versteck
mich an überhaupt nichts erinnern, von dem Moment an, als der Wagen sich überschlug und ich das Bewußtsein verlor, bis ich Stunden später in einem Krankenhausbett aufwachte und als erstes den Regen sah, der an eine Fensterscheibe trommelte …«
Er wurde durch das Eintreffen von Salvatore Gujilio unterbrochen, in dessen Kanzlei sie warteten. Gujilio, ein Hüne, groß und massig, riß die Tür weit auf, stürmte wie immer mit Riesenschritten ins Zimmer und ließ die Tür schwungvoll zufallen. Mit dem Ungestüm einer Naturgewalt – etwa eines mittleren Tornados – begrüßte er einen Besucher nach dem anderen. Hatch hätte sich nicht im geringsten gewundert, wenn die Möbel sich plötzlich wie Kreisel gedreht hätten und Bilder von den Wänden gefallen wären, denn der Anwalt strahlte eine solche Energie aus, daß er alles in seiner näheren Umgebung in Schwingung zu versetzen und zu elektrisieren schien.
Sein Redestrom versiegte keine Sekunde, während er Jiminez wie ein tapsiger Bär in seine Arme riß, Durans Hand wie einen Pumpenschwengel schüttelte und sich vor beiden Nonnen mit der Ehrerbietung eines glühenden Monarchisten verbeugte, der Mitglieder der Königsfamilie begrüßt. Gujilio war ungeheuer kontaktfreudig und hatte Lindsey schon bei der zweiten Begegnung zur Begrüßung und zum Abschied umarmt. Sie fand den Mann sehr sympathisch und hatte nichts gegen diese enge Tuchfühlung einzuwenden, aber sie war sich – wie sie Hatch später gestand – wie ein winziges Kind vorgekommen, das einen Sumo-Ringer umarmt. »Er reißt mich ja glatt von den Füßen«, hatte sie gesagt. Deshalb blieb sie jetzt vorsichtshalber auf dem Sofa sitzen und schüttelte dem Anwalt nur die Hand.
Hatch erhob sich und streckte seine rechte Hand aus, darauf gefaßt, daß sie verschlungen würde wie ein Krumen in einer Kultur hungriger Amöben. Und genau das geschah denn auch. Gujilio umschloß Hatchs Hand wie immer mit seinen beiden Bärenpranken und schien sie zerquetschen zu wollen.
»Was für ein herrlicher Tag!« rief er. »Ein ganz besonderer Tag! Ich hoffe um unsrer aller willen, daß die Sache wie am Schnürchen läuft.«
Der Anwalt nahm sich jede Woche einige Stunden Zeit für die Kirche St. Thomas und das Waisenhaus. Es verschaffte ihm sichtlich größte Befriedigung, Adoptiveltern und behinderte Kinder zusammenzubringen.
»Regina ist auf dem Weg hierher«, berichtete er. »Sie hält noch einen kleinen Plausch mit meiner Sekretärin, weiter nichts. Ich glaube, sie ist nervös und schiebt den entscheidenden Moment hinaus, bis sie ihren ganzen Mut zusammengenommen hat. Sie wird aber bestimmt gleich hier sein.«
Hatch sah Lindsey an. Sie lächelte nervös und griff nach seiner Hand.
Salvatore Gujilio blieb dicht vor dem Sofa stehen. Er wirkte so gewaltig wie einer der großen Ballons bei einer Macys-Parade am Thanksgiving Day. »Sie wissen ja, welchen Sinn dieses Treffen hat – Sie sollen Regina kennenlernen, und sie soll Sie kennenlernen. Niemand fällt gleich hier, auf der Stelle, eine Entscheidung. Sie denken in Ruhe über alles nach und lassen uns morgen oder übermorgen wissen, ob Sie das Mädchen adoptieren wollen. Das gleiche gilt für Regina. Sie hat einen Tag Bedenkzeit.«
»Es ist ein großer Schritt«, warf Pater Jiminez ein.
»Ein gewaltiger Schritt«, bekräftigte Schwester Immaculata.
Die Nonne ohne Namen ging zur Tür, öffnete sie und spähte in den Gang hinaus. Regina war offenbar noch nicht zu sehen.
Gujilio umrundete seinen Schreibtisch. »Ich bin mir ganz sicher, daß sie gleich kommt.«
Der Anwalt brachte seinen massigen Körper in einem Schreibtischsessel unter, aber bei seiner Größe von einsfünfundneunzig war er auch im Sitzen eine imposante Erscheinung. Die Kanzlei war ausschließlich mit Antiquitäten eingerichtet, und der Schreibtisch war ein so herrliches Stück im Stil Napoleons III., daß Hatch sich sehnlichst wünschte, etwas Derartiges im Schaufenster seines Geschäfts zu haben. Mit Goldbronze verziert, bildeten die Intarsien aus exotischem Holz ein zentrales Ornament mit einem Musikinstrument über einem Fries aus stilisiertem Blattwerk. Die Beine waren geschwungen und mit bronzenem Akanthusblatt verziert, und die x-förmige gewundene Fußstütze war in der Mitte mit einer bronzenen Kreuzblume geschmückt. Gujilios Größe und phänomenale kinetische Energie ließen den Schreibtisch – ebenso wie alle anderen Antiquitäten – zerbrechlich erscheinen, und Hatch hatte
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