Das Versteck
künstlerischen Vision, daß er den unwillkürlichen Drang verspürte, ihre Augen gleich hier in der Bar nach innen zu drehen, während alle zuschauten. Aber er beherrschte sich.
»Was willst du?« fragte sie nach einem weiteren Schluck Bier.
»Wovon – vom Leben?«
»Von mir.«
»Was glaubst du?«
»Ein bißchen Nervenkitzel«, sagte sie.
»Mehr als das.«
»Heim und Familie?« fragte sie sarkastisch.
Er antwortete nicht sofort. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Dieser Fisch war etwas Besonderes, nicht so leicht einzufangen wie die meisten. Er wollte nicht riskieren, daß sie ihm vom Angelhaken sprang, nur weil er etwas Falsches gesagt hatte. Er holte sich noch ein Bier und nippte daran.
Vier Mitglieder einer Ersatzband steuerten auf die Bühne zu. Sie würden spielen, während die anderen Musiker Pause hatten. Bald würde jede Unterhaltung unmöglich sein. Was aber noch wichtiger war – sobald die aggressive Musik begann, würde der Energiepegel im Klub stark ansteigen und möglicherweise das Magnetfeld zwischen ihm und der Blondine empfindlich stören. Dann wäre sie für seinen Vorschlag, zusammen aufzubrechen, eventuell nicht mehr empfänglich.
Er beantwortete endlich indirekt ihre Frage, indem er ihr eine Lüge über seine wahren Absichten auftischte. »Kennen Sie jemanden, dem Sie den Tod wünschen?«
»Wer kennt so jemanden nicht?«
»Wer ist es?«
»Die Hälfte aller Leute, die ich je gekannt habe.«
»Ich meine, irgendeine ganz bestimmte Person.«
Sie begriff allmählich, was er ihr vorschlug. Sie trank einen Schluck Bier und leckte mit der Zunge den Flaschenrand ab. »Soll das ein Spiel sein?«
»Nur wenn Sie wollen, daß es ein Spiel bleibt, Miss.«
»Du bist pervers.«
»Ist nicht gerade das Ihr Geschmack?«
»Vielleicht bist du ein Bulle.«
»Glauben Sie das wirklich?«
Sie starrte intensiv seine Sonnenbrille an, obwohl sie seine Augen hinter den dunklen Gläsern kaum erkennen konnte. »Nein, kein Bulle.«
»Sex ist nicht der richtige Anfang«, sagte er.
»Nicht?«
»Tod ist ein besserer Anfang. Zuerst zusammen ein bißchen töten, dann erst der Sex. Sie glauben gar nicht, wie erregend das sein kann.«
Sie sagte nichts.
Die Ersatzband nahm ihre Instrumente zur Hand.
»Diese bestimmte Person, der Sie den Tod wünschen – ist das ein Mann?«
»Ja.«
»Wohnt er irgendwo in der Nähe?«
»Mit dem Auto sind es zwanzig Minuten von hier.«
»Worauf warten wir dann noch?«
Die Musiker stimmten ihre Instrumente, obwohl das bei der Musik, die sie produzieren würden, eigentlich vergebliche Liebesmüh war. Hier waren sie gut beraten, wenn sie das richtige Zeug spielten, und das zur vollen Zufriedenheit der Gäste, denn andernfalls riskierten sie an einem Ort wie diesem eine ordentliche Tracht Prügel.
Schließlich sagte die Blondine: »Ich habe ein bißchen PCP. Willst du auch was?«
»Wär nicht schlecht.«
»Hast du 'ne Karre?«
»Gehen wir.«
Er hielt ihr galant die Tür auf.
Sie lachte.
»Mann, du bist wirklich pervers.«
Die Digitaluhr auf dem Nachttisch zeigte 1 Uhr 28 an. Obwohl Hatch nur wenige Stunden geschlafen hatte, war er hellwach und wollte sich nicht wieder hinlegen.
Außerdem hatte er einen trockenen Mund. Als hätte er Sand gegessen. Er mußte unbedingt etwas trinken.
Das Licht der handtuchumhüllten Lampe ermöglichte es ihm, den Weg zur Kommode zu finden und leise die richtige Schublade zu öffnen, ohne Lindsey zu wecken. Fröstelnd zog er ein Sweatshirt an. Er hatte bisher nur eine Pyjamahose am Leibe gehabt und wußte, daß das dünne Pyjamaoberteil ihn nicht genügend wärmen würde.
Er öffnete die Schlafzimmertür und trat auf den Flur hinaus. Von dort warf er einen Blick auf seine schlafende Frau. Im weichen bernsteinfarbenen Licht sah sie wunderschön aus, wie sie so dalag, mit entspanntem Gesicht, leicht geöffneten Lippen, eine Hand unter dem Kinn, die dunklen Haare auf dem Kissen ausgebreitet. Ihr Anblick wärmte ihn noch mehr als das Sweatshirt. Dann dachte er an all die Jahre, die sie durch ihre depressive Trauer verloren hatten, und eine mächtige Woge des Bedauerns ertränkte die durch den Alptraum hervorgerufenen Ängste. Er schloß lautlos hinter sich die Tür.
Auf dem Flur war alles in dunkle Schatten gehüllt, aber von der Halle im Erdgeschoß fiel schwaches Licht die Treppe hinauf. Sie hatten es vorhin so eilig gehabt, vom Sofa ins Bett zu kommen, daß sie nicht einmal die Lampen ausgeschaltet hatten.
Wie zwei geile Teenager.
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