Das Versteck
Er lächelte bei diesem Gedanken.
Während er die Treppe hinabging, fiel ihm der Alptraum wieder ein, und das Lächeln verging ihm wieder.
Die Blondine. Das Messer. Das Auge. Es war so real gewesen.
Im Erdgeschoß blieb er lauschend stehen. Die Stille im Haus war unnatürlich. Er klopfte mit dem Knöchel gegen den Treppenpfosten, nur um einen Laut zu hören. Das Geräusch erschien ihm leiser, als es eigentlich hätte sein müssen, und die nachfolgende Stille war noch unheimlicher als zuvor.
»Mein Gott, dieser Traum hat dich ganz schön mitgenommen«, sagte er laut, und der Klang seiner eigenen Stimme hatte eine beruhigende Wirkung.
Seine nackten Füße verursachten lustige platschende Geräusche auf dem Eichenboden des Korridors, und auf den Küchenfliesen waren sie noch lauter. Sein Durst wurde mit jeder Sekunde quälender. Er holte eine Dose Pepsi aus dem Kühlschrank, öffnete sie, legte den Kopf zurück, schloß die Augen und trank einen großen Schluck.
Es schmeckte nicht wie Cola. Es schmeckte wie Bier.
Mit gerunzelter Stirn öffnete er die Augen und betrachtete die Dose. Es war überhaupt keine Dose mehr. Es war eine Bierflasche, dieselbe Marke wie in seinem Traum: Corona. Weder er noch Lindsey tranken Corona. Wenn sie überhaupt mal Bier tranken, dann nur Heineken.
Er zitterte vor Angst, als würde er von Stromstößen geschüttelt.
Dann bemerkte er, daß die Fliesen des Küchenbodens verschwunden waren. Er stand barfuß auf Kieselsteinen. Sie schnitten in seine Fußballen.
Sein Herz klopfte zum Zerspringen, während er sich in der Küche umsah. Er hatte das verzweifelte Bedürfnis, sich zu vergewissern, daß er in seinem eigenen Haus war, daß die Welt nicht irgendeine bizarre neue Dimension angenommen hatte. Er ließ seinen Blick über die vertrauten weiß gestrichenen Birkenschränke gleiten, über die dunklen Arbeitsplatten aus Granit, über den Geschirrspüler und die glänzende Front der eingebauten Mikrowelle und versuchte mit aller Willenskraft, den Alptraum zu vertreiben. Aber die Kieselsteine verschwanden nicht. Er hielt nach wie vor eine Flasche Corona in der rechten Hand. Er wandte sich zur Spüle, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, aber die Spüle war nicht mehr da. Eine Hälfte der Küche war verschwunden, und statt dessen war da eine Leitplanke, und entlang dieser Leitplanke waren Autos geparkt, und dann –.
– war er überhaupt nicht mehr in seiner Küche. Sie war spurlos verschwunden. Er befand sich im Freien, in dichtem Nebel, der rot schimmerte, weil irgendwo hinter ihm eine Neonreklame brannte. Er ging über einen Parkplatz mit Kieselsteinbelag, und er war nicht mehr barfuß, sondern trug schwarze Rockports mit Gummisohle. Er hörte eine Frau sagen: »Ich heiße Lisa. Und du?« Er drehte den Kopf zur Seite und sah die Blondine. Sie ging neben ihm, hielt mit ihm Schritt, während sie den Parkplatz überquerten. Anstatt ihre Frage sofort zu beantworten, setzte er die Corona-Flasche an die Lippen, trank den letzten Rest Bier aus und ließ die leere Flasche einfach auf den Kies fallen. »Ich heiße …«
… er schnappte erschrocken nach Luft, als kalte Pepsi aus der fallengelassenen Dose um seine nackten Füße schäumte und eine Pfütze bildete. Die Kieselsteine waren verschwunden. Auf den pfirsichfarbenen Fliesen des Küchenbodens schimmerte verschüttete Cola.
In Redlows Pontiac sagte Lisa, sie müßten auf dem San Diego Freeway in südlicher Richtung fahren. Während Vassago bei dichtem Nebel die nächste Autobahnauffahrt ansteuerte, wühlte sie in ihrer Handtasche herum, die ein reichhaltiges Sortiment an Pharmaerzeugnissen enthielt, und brachte PCP-Kapseln zum Vorschein, die sie beide mit dem Rest ihres Bieres hinunterspülten.
PCP war ein Beruhigungsmittel für Tiere, das auf Menschen häufig die entgegengesetzte Wirkung hatte und sie in destruktive Raserei versetzte. Es würde interessant sein, die Wirkung der Droge auf Lisa zu beobachten, die das Bewußtsein einer Schlange zu haben schien, der Moralvorstellungen völlig unbekannt waren, die für die Welt nur unbändigen Haß und Verachtung übrig hatte, deren Überlegenheits- und Machtgefühle einen gewissen Hang zur Selbstzerstörung nicht ausschlossen und in der bereits soviel komprimierte psychotische Energie aufgestaut war, daß sie ständig am Rande einer Explosion zu stehen schien. Vassago vermutete, daß sie mit Hilfe von PCP zu höchst amüsanten Ausbrüchen extremer Gewalt fähig sein würde,
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