Das Versteck
zunächst eine kalte Wut, seltsam unbestimmt. Er öffnete sich ihr, genoß sie, fachte sie bewußt weiter an.
Vor seinem geistigen Auge tauchte flüchtig eine Zeitung auf. Er konnte sie nicht deutlich sehen, aber irgendein Artikel war die Ursache seines Zorns. Er kniff die Augen zusammen, als könnte ihm das helfen, den Text zu erkennen.
Die Vision war plötzlich zu Ende – nicht aber der Zorn. Er nährte ihn weiter, so wie ein glücklicher Mensch ein Lachen bewußt über die natürliche Zeitspanne hinaus ausdehnt, weil der Klang des Lachens ihn heiter stimmt. Er hörte sich plötzlich laut schimpfen: »Diese verfluchte Drecksau!«
Er hatte keine Ahnung, woher dieser Ausruf kam, genauso wie er keine Ahnung hatte, warum er in jener Bar in Newport Beach »Lindsey« gesagt hatte, vor Wochen, als diese seltsamen Erlebnisse begonnen hatten.
Er fühlte sich vor Wut so energiegeladen, daß er seiner Sammlung den Rücken kehrte, den riesigen Raum durchquerte, die Rampe hinaufstieg, auf der einst die Gondeln in die Tiefe geschossen waren, und ins Freie trat, wo der Mondschein ihn zwang, seine Sonnenbrille aufzusetzen. Er konnte nicht stillstehen. Er brauchte Bewegung, Bewegung. Er ging die Hauptstraße entlang, ohne zu wissen, nach wem oder was er suchte, neugierig, was als nächstes geschehen würde.
Einzelne Bilder huschten ihm durch den Kopf, verschwanden aber so schnell wieder, daß er sie nicht einordnen konnte: die Zeitung, ein Zimmer mit gefüllten Bücherregalen, ein Aktenschrank, ein handgeschriebener Brief, ein Telefon … Er ging immer schneller, bog in Seitenstraßen oder auf die schmalen Wege zwischen den zerfallenden Bauten ab, auf der vergeblichen Suche nach einer Art Antenne, um die ihm zufliegenden Bilder besser erkennen zu können.
Als er an der Achterbahn vorbeikam, fiel kaltes Mondlicht durch das Gewirr von Stützpfeilern und funkelte auf den Schienen, so als wären sie nicht aus Stahl, sondern aus Eis. Er legte den Kopf zurück und betrachtete die monolithische – und plötzlich geheimnisvolle – Struktur, und dann hörte er sich wütend brüllen: »Und anschließend würde ich ihn in diesen eisigen Fluß werfen!« Eine Frau sagte: Liebling, schrei nicht so.
Obwohl Vassago wußte, daß ihre Stimme aus seinem Innern gekommen war, drehte er sich suchend um. Und da stand sie. In einem Bademantel. Auf einer Türschwelle, die es eigentlich gar nicht geben konnte, weil die Tür nicht von Wänden umgeben war. Links und rechts vom Türrahmen und auch darüber war nur die Nacht, der öde Vergnügungspark. Aber im Hintergrund war etwas zu sehen, was die Eingangshalle eines Hauses zu sein schien, ein kleiner Tisch mit einer Blumenvase, eine Treppe, die in einem Bogen nach oben führte.
Es war die Frau, die er bisher nur aus seinen Träumen kannte, die er erstmals im Rollstuhl und zuletzt in einem roten Auto auf sonnenbeschienener Straße gesehen hatte. Als er einen Schritt auf sie zu machte, sagte sie: Du wirst Regina aufwecken.
Er blieb stehen, nicht weil er befürchtete, Regina aufzuwecken, wer auch immer das sein mochte, und auch nicht deshalb, weil er die Frau nicht mehr haben wollte – das wollte er durchaus, weil sie so lebensvoll war –, sondern weil er plötzlich links neben der imaginären Tür einen Spiegel entdeckte, der in der Nachtluft schwebte, obwohl das völlig unmöglich war. Er sah darin sein Spiegelbild, aber es war nicht er selber, sondern ein Mann, den er nie zuvor gesehen hatte, der so groß wie er war, aber etwa doppelt so alt, schlank und fit, das Gesicht wutverzerrt.
Der Ausdruck von Wut verwandelte sich plötzlich in Schock und Ekel, und sowohl Vassago als auch der andere Mann wandten sich vom Spiegel ab, der Frau auf der Schwelle zu. »Lindsey, es tut mir leid«, sagte Vassago.
Lindsey! Der Name, der ihm in jener Bar in Newport Beach dreimal über die Lippen gekommen war.
Bis jetzt hatte er ihn nicht mit der Frau in Verbindung gebracht, die ihm namenlos so oft im Traum erschienen war.
»Lindsey«, wiederholte Vassago.
Diesmal hatte er aus eigenem Willen gesprochen und nicht einfach wiederholt, was der Mann im Spiegel sagte, und das ließ die Vision wie eine Seifenblase zerplatzen. Der Spiegel mitsamt dem Spiegelbild, die Tür und die dunkeläugige Frau – alles verschwand.
Vassago streckte eine Hand aus, dorthin, wo die Frau eben noch gestanden hatte. »Lindsey …« Er sehnte sich danach, sie zu berühren. Sie war so unglaublich lebendig. »Lindsey.« Er wollte sie
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