Das Versteck
Städte.
Zivilisation.
Jagdgründe.
Die endlosen Weiten Südkaliforniens – Tausende Quadratkilometer, mehrere Zehnmillionen Einwohner, Ventura County im Norden und San Diego County im Süden nicht mitgerechnet waren Vassagos Verbündete, wenn es darum ging, seine Sammlung zu komplettieren, ohne die Polizei auf sich aufmerksam zu machen. Drei seiner Opfer stammten aus verschiedenen Orten in Los Angeles County, zwei aus Riverside, der Rest aus Orange County. Während dieser Monate waren hier Hunderte von Personen als vermißt gemeldet worden, so daß seine wenigen Sammelstücke den Behörden mit Sicherheit nicht aufgefallen waren.
Was ihm ferner zu Hilfe kam, war die Tatsache, daß diese letzten Jahre des Jahrhunderts und Jahrtausends eine Zeit der Unbeständigkeit waren. Sehr viele Menschen verzichteten auf jede Kontinuität im Leben und wechselten häufig ihre Berufe, Wohnorte, Freunde und Ehepartner. Folglich fiel es viel weniger auf, wenn eine Person verschwand, und selbst wenn es auffiel, gingen die wenigsten Leute noch zur Polizei. Die meisten Verschwundenen wurden nämlich später irgendwo entdeckt: Sie hatten einfach aus eigenem Antrieb ein neues Leben begonnen. Einem jungen Geschäftsführer wurde vielleicht plötzlich die Plackerei zuviel, und er nahm in Las Vegas oder Reno einen Job als Croupier beim Black Jack an, und eine junge Mutter, die wegen der aufwendigen Pflege eines Kleinkinds und der Ansprüche eines kindischen Ehemanns frustriert war, konnte in denselben Städten als Bardame oder Oben-ohne-Tänzerin landen. Sie handelten einem plötzlichen Impuls zufolge, ließen ihr bisheriges Leben so leichtfertig hinter sich, als wäre ein durchschnittliches Mittelschicht-Leben genauso schandbar wie ein krimineller Hintergrund. Andere fielen irgendwelchen Süchten zum Opfer und lebten in billigen Rattenlöchern von Hotels, wo Zimmer wochenweise an die unzähligen versponnenen Jünger irgendeiner Subkultur vermietet wurden. Und weil dies hier Kalifornien war, landeten viele Vermißte schließlich in religiösen Kommunen in Marin County oder in Oregon, wo sie irgendeinen neuen Gott oder die neue Offenbarung eines alten Gottes verehrten oder auch nur einen Mann mit verschlagenen Augen, der behauptete, er sei Gott.
Es war ein neues Zeitalter, das Traditionen geringschätzte. Es gab einen Platz für jede Art von Lebensstil. Sogar für den von Vassago.
Wenn er Leichen hinterlassen hätte, wäre wahrscheinlich irgendwann aufgefallen, daß Opfer und Mordmethoden sich ähnelten. Die Polizei hätte begriffen, daß hier ein Täter von einmaliger Stärke und Gerissenheit am Werke war, und sie hätten eine Sonderkommission gebildet, um ihn zu finden.
Aber er hatte nur die Leiche der Blondine und des Detektivs nicht in die Hölle geschafft. Und diese beiden waren auf ganz verschiedene Art und Weise gestorben. Außerdem würde Morton Redlow vielleicht noch wochenlang nicht gefunden.
Zwischen Redlow und Lisa gab es nur zwei Verbindungen: den Revolver des Detektivs, mit dem die Frau erschossen worden war, und sein Auto, aus dem sie gestürzt war. Der Wagen war in der hintersten Ecke der längst nicht mehr benutzten Tiefgarage sicher versteckt. Der Revolver lag zusammen mit Keksen und Knabberzeug in der Kühlbox, auf dem Boden des Liftschachtes, mehr als zwei Etagen unter der Geisterbahn. Er hatte nicht die Absicht, die Schußwaffe noch einmal zu benutzen.
Er war unbewaffnet, als er nach längerer Fahrt in nördliche Richtung die Adresse erreichte, die er auf dem handgeschriebenen Brief in seiner Vision gesehen hatte. William X. Cooper, wer auch immer das sein mochte, falls es ihn tatsächlich gab, wohnte in einer gar nicht so üblen Anlage namens Palm Court. Dieser Name war zusammen mit der Straßennummer in ein dekoratives Holzschild geschnitzt, das von vorne angeleuchtet und erwartungsgemäß von Palmen umstanden wurde.
Vassago fuhr langsam weiter, bog rechts um die Ecke und parkte zwei Blocks entfernt. Er wollte nicht, daß sich jemand erinnerte, den Honda vor dem Gebäude stehen gesehen zu haben. Er hatte eigentlich nicht direkt die Absicht, diesen Cooper zu ermorden, er wollte sich nur mit ihm unterhalten, ihm einige Fragen stellen, speziell über dieses dunkelhaarige, dunkeläugige Weib namens Lindsey. Aber er begab sich in eine Situation, die er nicht verstand, und deshalb konnten Vorsichtsmaßnahmen nicht schaden. Außerdem – wenn er ehrlich war, tötete er in letzter Zeit die meisten Leute, mit denen er
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