Das Versteck
sich eine Weile unterhielt.
Nachdem sie den Aktenschrank geschlossen und das Licht ausgeschaltet hatten, schauten Hatch und Lindsey nach Regina. Leise traten sie an ihr Bett. Durch die offene Tür fiel vom Gang etwas Licht ein, so daß sie sehen konnten, daß das Mädchen fest schlief. Eine kleine, zur Faust geballte Hand lag unter ihrem Kinn. Sie atmete gleichmäßig durch leicht geöffnete Lippen. Falls sie träumte, mußten es angenehme Träume sein.
Es versetzte Hatch einen Stich ins Herz, als er sie betrachtete, denn sie schien so unendlich jung zu sein. Er konnte kaum glauben, daß er jemals so jung wie Regina gewesen war, denn Jugend war gleichbedeutend mit Unschuld. Ihm selbst war durch die Erziehungsmethoden seines Vaters die Unschuld schon in frühem Alter ausgetrieben worden; er hatte sie gegen ein intuitives Verständnis für eine abartige Psychologie eingetauscht, das ihm ermöglicht hatte, in einer Familie zu überleben, wo Wutausbrüche und brutale »Disziplin« als gerechte Bestrafung für unschuldige Fehler und kleine Mißverständnisse angesehen wurden. Er wußte, daß Regina nicht so zart sein konnte, wie sie aussah, denn das Leben hatte auch ihr so übel mitgespielt, daß sie sich eine dicke Haut und ein gepanzertes Herz zulegen mußte.
Doch so zäh sie einerseits auch sein mochten, waren sie andererseits doch beide sehr verwundbar, Kind und Mann gleichermaßen. Im Augenblick fühlte Hatch sich sogar noch verletzlicher als das Mädchen. Wenn er die Wahl zwischen Reginas Behinderungen und den Gehirnschäden gehabt hätte, die er offenbar doch davongetragen hatte, hätte er sich ohne Zögern für die körperlichen Beeinträchtigungen entschieden. Nach den Erfahrungen der letzten Tage, einschließlich der unerklärlichen Eskalation seines Ärgers zu blinder Wut, hatte Hatch das beklemmende Gefühl, sich nicht mehr völlig unter Kontrolle zu haben. Und seit er als kleiner Junge das abschreckende Beispiel seines Vaters vor Augen gehabt hatte, fürchtete er nichts so sehr wie mangelnde Selbstbeherrschung.
Ich werde dich nie im Stich lassen, versprach er dem schlafenden Kind.
Sein Blick schweifte zu Lindsey, der er sein Leben verdankte, und zwar das vor und das nach seinem Tod, und insgeheim versprach er auch ihr: Ich werde dich nie im Stich lassen.
Er fragte sich allerdings, ob er imstande sein würde, diese Versprechen zu halten.
Als sie später in ihrem Schlafzimmer im Dunkeln lagen, jeder auf seiner Betthälfte, sagte Lindsey: »Morgen müßte Nyebern die restlichen Testergebnisse erhalten.«
Hatch hatte fast den ganzen Samstag im Krankenhaus verbracht, Blut- und Urinproben abgegeben, sich Röntgenstrahlen und Ultraschallwellen ausgesetzt. Mit den vielen Elektroden an seinem Körper war er sich bisweilen wie das Monster vorgekommen, dem Dr. Frankenstein in alten Filmen Energie zuführte, indem er während eines Gewitters Drachen steigen ließ.
»Als ich heute mit ihm gesprochen habe, meinte er, daß bisher alles in Ordnung ist. Ich bin ganz sicher, daß auch die restlichen Testergebnisse negativ sein werden. Was auch immer mit mir los sein mag, es hat nichts mit irgendwelchen geistigen oder physischen Schäden infolge des Unfalls oder infolge meines zeitweiligen … Todes zu tun. Ich bin gesund. Und völlig normal.«
»O Gott, das hoffe ich von ganzem Herzen.«
»Mit mir ist alles in bester Ordnung.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Ja. Wirklich und wahrhaftig.« Er wunderte sich, wie glatt ihm diese Lüge über die Lippen kam. Vielleicht weil es eine barmherzige Lüge war, die Lindsey beruhigen sollte, damit sie schlafen konnte.
»Ich liebe dich«, sagte sie.
»Ich liebe dich auch.«
Wenige Minuten später – auf der Digitaluhr war es kurz vor Mitternacht – schlief sie und schnarchte leise.
Hatch konnte nicht einschlafen. Vielleicht würde er schon morgen erfahren, daß es für ihn keine Zukunft gab. Er rechnete damit, daß Dr. Nyebern ihn mit grauem Gesicht und düsterer Miene begrüßen würde, weil er ihm die traurige Mitteilung machen mußte, daß in einem Gehirnlappen ein verdächtiger Schatten entdeckt worden war, eine Ansammlung toter Zellen, eine Gehirnverletzung, eine Zyste oder ein Tumor. Etwas Tödliches. Inoperables.
Seit den unheimlichen Ereignissen von Donnerstagnacht und Freitagmorgen, als er von der Ermordung der Blondine geträumt und später die Spur des Mörders bis zur Route 133 verfolgt hatte, war er allmählich wieder etwas zuversichtlicher geworden. Das
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