Das verstummen der Kraehe
Frage.
»Ich war nicht verstört, ich habe versucht zu verhindern, dass Papa einen Herzinfarkt bekommt, wenn er aufsteht und wie jeden Morgen als Erstes einen Blick auf diese verdammte Kerze wirft.«
»Nenn sie bitte nicht so.«
»Dieses Licht hat ausschließlich etwas mit Papa zu tun. Bens Leben hängt sicherlich nicht an so einem Wachsteil.«
»Es gibt Menschen, die daran glauben. Für deinen Vater ist es ein Weg, um durchzuhalten.« Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Augenwinkel. »Trinkt er eigentlich immer noch so viel?«
Ich zuckte die Schultern. Sie wusste genau wie mein Vater, dass ich auf solche Fragen nicht antwortete. Trotzdem versuchten es beide immer wieder. Könnte ja sein, sie erwischten mal einen meiner nachgiebigeren Momente.
Vor fünf Jahren hatten meine Eltern sich getrennt und aus der linken Haushälfte zwei Wohnungen gemacht. Meine Mutter war in die untere, mein Vater in die obere gezogen. Als sie feststellten, dass die Trennung von Tisch und Bett nicht die erhoffte Erlösung brachte, hatten sie aufgehört, miteinander zu reden, und begonnen, ausschließlich über gelbe Klebezettel an den Briefkästen miteinander zu kommunizieren. Die Frage »Trinkst du immer noch so viel?« machte sich auf einem solchen Zettel natürlich nicht so gut – zumal die Briefkästen im Hausflur gleich hinter der Eingangstür angebracht waren. Und dort kam nicht nur ich vorbei.
»Mitten in der Nacht«, sagte sie leise, »wenn ich aus meinen Albträumen aufwache und die grauen Schatten über mich herfallen, gibt es Momente, die jede Hoffnung zunichtemachen. Aber am Morgen nehme ich all meine Kraft zusammen und stehe auf. Und dann ist die Hoffnung wieder da, dass Ben doch noch zurückkehrt, und diese Hoffnung trägt mich durch den Tag.«
Als ich nach einer heißen Dusche und einem Frühstück im Stehen hinunter ins Erdgeschoss lief, verbot ich mir jeden Gedanken an die Kerze und die schlaflosen Nächte meiner Mutter. Im Büro konzentrierte ich mich auf die Frage, was noch zu tun war, bevor Funda Seidl in einer Stunde ihren neuen Job bei mir antreten würde. Ich ließ meinen Blick durch den Raum wandern. Es war mir gelungen, ihn mit allem auszustatten, was in ein Büro gehörte, ihm gleichzeitig aber eine anheimelnde Note zu verleihen. Außer den beiden Schreibtischen, den rückenfreundlichen Drehstühlen und den PCs gab es grasgrüne Aktenschränke, ein urgemütliches Stoffsofa in Dunkellila und einen Couchtisch aus hellblauen Glasbausteinen, elfenbeinfarbene Raffrollos und einen Strauß weißer Hortensien aus dem Garten.
Ich hoffte, meine neue Mitarbeiterin würde sich hier wohlfühlen und nicht nach kurzer Zeit kündigen, wie es ihre beiden Vorgängerinnen mit der Begründung getan hatten, sie hätten sich die Abwicklung von Nachlässen anders vorgestellt, angenehmer irgendwie. Die eine hatte bei verwahrlosten Haushalten die Nase gerümpft, der anderen war vom Verwesungsgeruch schlecht geworden. Dabei hatte ich in den Bewerbungsgesprächen keine der Schattenseiten dieser Arbeit verschwiegen. Aber wie bei so vielem zeigte sich auch hier, dass die Vorstellung von etwas an die Realität nicht heranreichte. Wer nicht bereit war, auch einmal die Zähne zusammenzubeißen und zuzupacken, war bei der Nachlassverwaltung zum Scheitern verurteilt. Dabei bot sie einen Aspekt, der für mich alles andere aufwog: Ich sah mich als Anwältin der Toten, um deren Hinterlassenschaften und letzte Wünsche ich mich kümmerte.
Funda Seidl, mit ihren siebenundzwanzig fünf Jahre jünger als ich, hatte mir in ihrem Bewerbungsgespräch verraten, sie fühle sich zu jung, um immer das Gleiche zu machen. Arzthelferin sei sie lange genug gewesen, und als Mutter einer dreijährigen Tochter habe sie auch schon jede Menge Erfahrung sammeln können. Sie suche nach einer Halbtags-Herausforderung, und ihr sei garantiert absolut nichts zuwider. Ich hätte nicht sagen können, warum, aber ich hatte ihr geglaubt.
Nach einem Blick auf die Uhr setzte ich in der Küche eine Kanne Kaffee auf. Kaum hatte ich danach die Tür zu meinem kleinen Vorgarten geöffnet, wurde ich lautstark von einer zahmen Krähe begrüßt, die im Quittenbaum auf mich wartete. Mit schnellen Blicken in alle Richtungen prüfte Alfred, ob die Luft rein war, breitete schließlich die Flügel aus und landete auf dem Gartentisch, um sich wie jeden Tag mit einer Walnuss belohnen zu lassen. Sobald er sie aufgepickt hatte, verschwand er über die Buchenhecke hinweg, die
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