Das verstummen der Kraehe
Haare, die an diesem Vormittag im Nacken von einer Spange zusammengehalten wurden und so die hauchzarten, fast handtellergroßen Kreolen zur Geltung brachten. Unter einer knallengen Weste aus Anzugstoff trug sie ein verwaschenes, langärmeliges Shirt mit V-Ausschnitt. Dazu eine ebenso eng anliegende Jeans und Boots, die aussahen, als hätte sie mit ihnen mindestens einmal das Land durchquert.
»Funda.« Im Blick meiner neuen Mitarbeiterin spiegelte sich eine Mischung aus Offenheit und Neugier wider.
In Henrikes blaugrauen Augen, die durch die schwarz getuschten langen Wimpern noch betont wurden, lag wie so oft ein Ausdruck von Wachsamkeit, als wolle sie in jedem Moment für die Unberechenbarkeit des Lebens gewappnet sein. Vor ungefähr einem Jahr hatte sie alle anderen Mietinteressenten für die Scheune aus dem Feld geschlagen, als sie sich bei meinem Vater mit den Worten vorstellte: »Ich bin einundvierzig Jahre alt und muss noch einmal ganz von vorne beginnen.«
Das muss in diesem Satz war einem Sesam-öffne-dich gleichgekommen. Es war meinem Vater nur allzu vertraut. Denn nicht nur wir drei hatten neu anfangen müssen – auch Simon war vor vier Jahren hier gelandet, nachdem das Restaurant, in dem er als Kellermeister gearbeitet hatte, pleitegegangen war und er sich von einem Tag auf den anderen eine neue Existenz hatte aufbauen müssen.
Henrike, die aus dem Norden stammte und, was ihre Vergangenheit betraf, nicht viel mehr als vage Andeutungen machte, war mir in den vergangenen elf Monaten zu einer Freundin geworden. Auf gewisse Weise waren wir alle wie Strandgut, das von den Wellen hier angespült worden war.
Henrike betrachtete Funda, als ginge es darum, einen Gegner im Ring auf seine Stärke hin zu taxieren. »Willkommen im Club! Ich habe gehört, dass du dich vor absolut nichts ekelst. Sollte es Kris mal nicht gelingen, dich auszulasten, melde dich bei mir.«
»Und du bist das Multitalent, das nebenher noch einen Krimi schreibt? Solltest du mal Nachhilfeunterricht in Waffenkunde brauchen, du weißt ja, wo du mich findest«, konterte Funda.
»Funda ist im Schützenverein«, warf ich ein.
»Inzwischen bin ich ausgetreten. Wovon handelt dein Krimi?«
»Das verrate ich nicht«, antwortete Henrike.
»Wie lange schreibst du schon daran?«
»Ich hab’s nicht eilig.«
»Und woher nimmst du deine Ideen?«
Ich ließ die beiden allein und ging in die Küche, um Wasser für einen Tee aufzusetzen. Ich kannte Henrikes Antwort auf diese Frage, ich hatte sie ihr selbst schon gestellt. Sie lasse sich vom Leben in all seinen Facetten inspirieren. Ihr persönliches Umfeld spare sie jedoch aus, hatte sie mir versichert. Nur für den Fall, ich hätte Sorge, sie würde das Verschwinden meines Bruders verarbeiten.
»Was ist los mit dir?«, fragte Henrike, die mir in die Küche gefolgt war. »Du siehst mitgenommen aus. Ist etwas passiert?«
Ich goss das heiße Wasser in einen Becher, tat einen Beutel mit losem grünem Tee hinein und reichte ihn ihr. »Wenn ich es dir erzähle, hältst du mich für übergeschnappt.«
»Es muss eine Menge passieren, bevor ich jemanden für übergeschnappt halte«, konterte sie trocken.
»Als ich heute früh über den Hof ging, brannte die Kerze nicht mehr. Sie ist auf unerfindliche Weise ausgegangen.«
»Vorhin brannte sie.«
»Ja klar, ich habe sie wieder angezündet. Mein Vater würde zusammenklappen, wenn er es wüsste.«
»Hast du eine Idee, wie …?«
Ich schüttelte den Kopf. »Eigentlich kann sie nur ausgeblasen worden sein. Erst dachte ich, der Wind wäre es gewesen, aber die Laterne war fest verschlossen.«
»Und wenn dein Vater es selbst war?«
»Das würde er nie tun.«
Sie hob eine Augenbraue. »Er würde es tun, wenn Ben tot wäre.«
2
Nachdem Funda um dreizehn Uhr gegangen war, zog ich mir ein paar Mohrrüben aus dem Gemüsebeet meiner Mutter, wusch sie und dippte sie in Frischkäse. Mein Hunger hielt sich nach zehn Baklava in Grenzen. Ich sah die Geschäftsbriefe des Tages durch und sortierte sie vor. Der unterste und zugleich dickste Umschlag kam vom Nachlassgericht. Er enthielt die Unterlagen zu einer Testamentsvollstreckung und die Bitte um Annahmeerklärung. Die Verstorbene, die einundvierzigjährige Theresa Lenhardt aus Obermenzing, hatte ausdrücklich mich benannt, um ihren letzten Willen auszuführen. Der Name war mir nicht geläufig, aber es war auch nicht ungewöhnlich, von völlig Fremden eingesetzt zu werden. Beim ersten Lesen überflog ich das
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