Das verstummen der Kraehe
Mal war ich allein und schaltete den CD-Player ein, um noch einmal Bens Musik zu hören: »Speed of Sound« von Coldplay. Als die Musik geendet hatte, meinte ich, ihn in meiner Nähe spüren zu können. Ich sah ihn vor mir, aber sosehr ich mich auch anstrengte, es gelang mir nicht, seine Stimme zu hören. Es war, als hätten die Jahre sie aus meiner Erinnerung gelöscht.
Noch bis vor Kurzem war er mein Bruder gewesen, der vor Jahren spurlos verschwunden war. Nun war er mein Bruder, der im Alter von vierundzwanzig Jahren umgebracht worden war. Es fiel mir schwer, das auszusprechen. Eines Tages würde ich jemandem auf die Frage, ob ich Geschwister habe, vielleicht antworten können. Ich hatte einen Bruder. Er lebt nicht mehr.
Das würde der Tag sein, an dem ich in Gedanken kein Wenn mehr hervorholte. Diese Wenns, die mir vorgaukelten, Ben hätte eine Chance haben können, hätte heute noch leben können. Wenn er sich nur nicht als Samenspender verdingt hätte. Wenn es für ein anderes Institut gewesen wäre. Wenn er damals nicht von Tilman Velte beobachtet worden wäre, als ein anderer Mann ihn küsste. Wenn Beate Angermeier ihn nicht als Spender ausgewählt hätte.
Irgendwann würde ich das, was geschehen war, als Bens Schicksal hinnehmen, und die Wunde, die es mir zugefügt hatte, als Teil von mir annehmen.
Im Vergleich zu alldem war der Schmerz, den Henrike mir zugefügt hatte, verschwindend gering. Ich erinnerte mich an das, was Martin gesagt hatte. Dass ich mit der Zeit vielleicht feststellen würde, dass etwas anderes wichtiger würde. Er hatte recht gehabt. Henrikes Doppelleben und alles, was damit zusammenhing, war in den Hintergrund getreten. Was nun zählte, war die Gewissheit, eine Freundin zu haben. Eine, die mein Leben gerettet hatte. Und eine, die sich die Schrecknisse jenes Sonntags anhörte, immer und immer wieder.
Auch Simon sah geduldig zu, wie meine Tränen in einem unaufhörlichen Strom flossen. Wir waren uns näher denn je, und das, obwohl sich unsere Standpunkte in mancher Hinsicht um keinen Millimeter angenähert hatten.
Martin hatte aus der Zeitung erfahren, dass Bens Mörder gefasst worden war. Er kam genau in den zwei Stunden in meinem Büro vorbei, in denen Simon üblicherweise Wein auslieferte. Ich schilderte ihm meine Version der Geschehnisse. Er wünsche, er wäre derjenige gewesen, der mein Leben gerettet hätte, meinte er.
Auch Marianne Moser, Theresa Lenhardts alte Vermieterin, hatte von den Ereignissen in der Zeitung gelesen. Sie schickte mir Blumen. Auf der beiliegenden Karte stand, sie würde sich über meinen Besuch freuen, wenn die Wogen sich etwas geglättet hätten. Ich hatte fest vor, irgendwann zu ihr zu fahren. Aber noch schlugen die Wogen tatsächlich zu hoch.
Eine Woge jedoch glättete sich, wie ich es nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Am Tag nach Bens Beerdigung hatte Rosa ihren alljährlichen Impftermin. Schon beim Betreten der Tierarztpraxis hörte ich ein wütendes Krächzen. Im ersten Moment glaubte ich, meine Sehnsucht nach Alfred habe mir mal wieder einen Streich gespielt. Aber Rosas Tierärztin erklärte mir auf meine Nachfrage, dass sie derzeit auf der Krankenstation eine Saatkrähe mit einem gebrochenen Bein in Pflege hätten. Der Vogel sei in einer Regenrinne hängen geblieben, von deren Besitzer befreit und in die Praxis gebracht worden. Sobald das geschiente Bein geheilt sei, würden sie das Tier wieder freilassen.
Als ich die Krankenstation betrat, verstummte die Krähe und legte den Kopf schief. Ein Wirbel zeichnete sich deutlich im Gefieder ab. Auch Rosa hatte Alfred sofort erkannt und knurrte ihn zur Begrüßung an, während mir vor Freude Tränen in die Augen traten.
Als ich zwei Tage nach Bens Beerdigung mittags mit Rosa durch den Park lief und in einem Moment, in dem ich mich unbeobachtet fühlte, auf die Eiche kletterte, setzte sich kurz darauf eine Frau neben Rosa ins Gras. Von oben erkannte ich sie nicht gleich, bis ich ihre Stimme hörte. Es war Rena Velte.
Ich stieg zu ihr hinunter und sah sie stumm an. Es fiel mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Sie konnte in den vergangenen Wochen kaum etwas gegessen haben, sie war abgemagert und blass.
»Gehen Sie ein paar Schritte mit mir?«, fragte sie.
Ich nickte. Während wir schweigend nebeneinander herliefen, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, der mich selbst überraschte. Sie war die Frau des Mörders meines Bruders. Aber zugleich auch die Mutter von Bens Sohn.
Sie ging mit vor der
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