Das verstummen der Kraehe
Brust verschränkten Armen und zu Boden gerichtetem Blick. Ihr Unglück war körperlich zu spüren.
»Wie kommen Sie zurecht?«, fragte ich.
»Ich nehme mir immer nur die nächste Stunde vor. Wenn Basti dann abends im Bett liegt und schläft, schlucke ich eine Schlaftablette. Ich weiß, das ist riskant, falls nachts mal etwas mit ihm ist. Aber anders stehe ich die Tage nicht durch. Ich muss weitermachen für meinen Sohn.« Sie blieb stehen und drehte sich zu mir. »Wissen Sie, was kaum zu ertragen ist? Der Gedanke, dass all das nicht geschehen wäre, wenn ich mich damals nicht zu diesem Schritt entschlossen hätte. Drei Männer mussten deswegen sterben. Drei Familien wurden zerstört. Und alles nur, weil …« Sie sah mich Hilfe suchend an. »Verstehen Sie? Hätte ich nicht …«
Auch sie hatte damit zu kämpfen – hätte, wäre, wenn. Es war der Versuch, das Geschehene ungeschehen zu machen. Weder ihr noch mir würde es gelingen.
Ich nahm ihre Hand und suchte ihren Blick. »All das ist nur deshalb geschehen, weil Ihr Mann sich dazu entschlossen hat. Er hat diese Menschen auf dem Gewissen, er ganz allein. Es ist nicht Ihre Schuld.«
»Es war ein schwerer Fehler, es über seinen Kopf hinweg zu tun. Das weiß ich jetzt. Aber ich dachte … wissen Sie, er hätte nicht zugestimmt. Nie, egal, was ich gesagt hätte, und gleichgültig, wie sehr ich es mir ersehnt hätte. Ich wusste das. Aber wir haben uns beide so sehr noch ein Kind gewünscht. Ich dachte, wenn es erst einmal da ist, wenn es gesund ist, spielt alles andere keine Rolle mehr. Wären Beate und ich nur nicht so unvorsichtig gewesen, als wir uns darüber unterhielten … wir haben nicht bemerkt, dass er alles mit anhörte, ich …« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf und schwieg.
Ich wusste, wie sehr diese Gedanken zur Qual werden konnten. »Ihr Mann hat diese drei Menschen umgebracht, es war seine Entscheidung«, wiederholte ich. »Er hätte anders mit der Situation umgehen können.«
»Ich habe mich über seinen Kopf hinweggesetzt, das hätte ich nicht tun dürfen«, sagte sie mit gesenktem Blick und setzte sich wieder in Bewegung. »So viel Schlimmes ist geschehen, weil ich damals diese Entscheidung getroffen habe. Und doch ist es mir unmöglich zu wünschen, ich hätte anders entschieden. Denn dann wäre Basti nicht auf der Welt.«
»Wie geht es Ihrem Sohn damit?«
»Den Umständen entsprechend. Er hat viel verloren, allem voran seinen Vater. Damit meine ich Tilman.« In ihrem Blick lag eine Entschuldigung. »Er vermisst seine Freunde, seine Schule, sein Zuhause, seine vertraute Umgebung.«
»Wo leben Sie jetzt?«
»Im Ferienhaus einer Freundin am Ammersee. Sie hat es uns auf unbegrenzte Zeit zur Verfügung gestellt. Wir leben dort unter meinem Mädchennamen, Basti geht dort zur Schule. Es ist schwer für ihn. Aber in unserem Haus in Gräfelfing konnten wir nicht bleiben. Es wurde belagert.«
»Haben Sie Verwandte, die Sie unterstützen?« Meine Frage war alles andere als uneigennützig. Ich hoffte, sie würde zulassen, dass meine Eltern Sebastian eines Tages kennenlernten. Aber für diese Frage war es noch zu früh.
»Ja, meine Eltern, aber die kann ich nicht beanspruchen. Mein Vater hat eine beginnende Demenz, damit ist meine Mutter ausgelastet.«
»Und Ihr Mann? Hat er Familie?«
»Er ist wie ich Einzelkind. Sein Vater ist vor zwei Jahren gestorben, seine Mutter ist seit vielen Jahren depressiv.«
»Was für ein Mensch war sein Vater?«
Sie blieb stehen und ließ ihren Blick den Horizont entlangwandern. Dann sah sie mich an. »Er war ein sehr schwieriger Mann, hatte sehr hohe Ansprüche an andere Menschen gestellt und abfällig über sie geredet, wenn sie denen nicht gerecht wurden. Er wurde schnell wütend, war nachtragend. Wenn seine Frau nur ein falsches Wort gesagt hat … Sie hat immer versucht, ihn wie ein rohes Ei zu behandeln. Dabei hat sie sich völlig verausgabt. Sie tat mir immer leid.«
»Wie war er zu Ihrem Mann?«
»Wie ein Trainer, der Höchstleistungen verlangt. Er war überzeugt, Tilman hätte viel mehr erreichen können, wenn er sich mehr angestrengt hätte. Ich habe seine Stimme noch im Ohr: Ich garantiere dir, Junge, wenn ich deine Möglichkeiten gehabt hätte, wäre ich ganz oben auf der Leiter angekommen. Ich habe mal gewagt zu sagen, ich sei sehr zufrieden mit dem, was mein Mann erreicht habe. Von diesem Moment an hat er mich nicht mehr beachtet.«
»Mir kam es so vor, als hätte Ihr Mann ihn bewundert. Er
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