Das verstummen der Kraehe
sagte, sein Vater habe ihm beigebracht, keine Fehler zu machen, besser zu sein als andere.«
»Das war nichts anderes als Drill, getarnt mit dem Mäntelchen der Liebe. Tilman musste als Kind ständig erstrebenswerte Eigenschaften aufschreiben und auswendig lernen, die ihn befähigen sollten, in allem der Beste zu werden. Für Fehler wurde er mit Missachtung bestraft. Sein Vater nahm ihn nur wahr, wenn er seinen Leistungsnormen entsprach. Aber Tilman hat immer eine Entschuldigung für ihn gefunden. Er ist überzeugt, dass er es seiner Erziehung zu verdanken hat, besser zu sein als andere. Und das ist für ihn das Wichtigste. Er vergleicht sich ständig. Ich habe es irgendwann aufgegeben, dagegen anzureden. Nur als er damit begann, Basti zu mehr Leistung anzustacheln, bin ich eingeschritten.«
Ich versuchte mir eine Kindheit unter diesen Bedingungen vorzustellen und fragte mich, was solch ein Druck aus einem Menschen machte.
»Ich bin überzeugt, dass sein Vater für Tilmans angeknackstes Selbstwertgefühl verantwortlich ist«, sagte sie, als habe sie meinen Gedanken hören können. »Er weist das zwar weit von sich und sieht sich als gelassenen und ausgeglichenen Menschen, aber das stimmt nicht. Er braucht wahnsinnig viel Bestätigung und Anerkennung. Mit Kritik kann er kaum umgehen, er ist schnell gekränkt, bezieht alles sofort auf sich. In dieser Hinsicht ähnelt er seinem Vater. Das war im Zusammenleben nicht immer ganz einfach, ich musste viel zurückstecken, aber mit den Jahren habe ich gelernt, damit umzugehen. Als Fabian, unser erster Sohn, todkrank zur Welt kam, hat Tilman das auf eine für mich völlig unverständliche Weise persönlich genommen. Er hätte damit leben können, wenn meine genetische Veranlagung die Ursache gewesen wäre. Dass es seine war, war für ihn unerträglich. Er konnte kaum darüber sprechen. Die Beratungsstunden mit Beate und in den Kinderwunschinstituten im Ausland waren wie ein Gang über ein Minenfeld. Ich musste jedes Wort auf die Goldwaage legen. In dieser Zeit hätten wir uns fast entzweit. Und nach allem, was geschehen ist, denke ich, es wäre das Beste gewesen, wir wären damals auseinandergegangen.«
Die Worte quollen aus ihr heraus, als wären sie lange Zeit im Zaum gehalten und endlich befreit worden. Dann biss sie sich auf die Lippen. »Ich kenne ihn, ich hätte wissen müssen, wie tief ihn diese Samenspende kränken würde. Und wenn ich ehrlich bin, wusste ich es auch. Aber ich war überzeugt, es würde mir gelingen, es geheim zu halten. Alles schien gut, als Basti zur Welt kam. Er war vom ersten Moment an Tilmans ganzer Stolz.«
»Und dann findet er nicht nur das mit der Samenspende heraus, sondern auch, dass sie von einem Homosexuellen stammte.«
»Entschuldigen Sie, Frau Mahlo, wenn ich das so sage, das ist ganz und gar nicht meine Denkweise, aber für Tilman sind Schwule keine richtigen Männer, dieses Gedankengut hat er völlig unreflektiert von seinem Vater übernommen. Ich habe mir in den vergangenen Wochen den Kopf darüber zerbrochen, wie es zu dem Mord an Ihrem Bruder kommen konnte. Ich habe immer wieder versucht, mich in Tilman hineinzuversetzen. Der einzige Schluss, zu dem ich komme, ist der, dass die Zeugung seines Sohnes durch einen Homosexuellen für ihn eine so tiefe Schmach bedeutete, dass er …« Sie legte die Hand auf ihre Brust und atmete tief ein. »Doch wenn ich an diesem Punkt angekommen bin, denke ich, dass viele Menschen tagtäglich Kränkungen wegstecken müssen und als Kind ähnlichen Bedingungen wie er ausgesetzt waren. Wenn alle, auf deren Selbstwertgefühl herumgetrampelt wird, zu Mördern würden …« Sie schluckte und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Man kann doch deshalb keinen Menschen umbringen.«
Ich versuchte mir eine Kränkung vorzustellen, die so schwer wog, dass sie mich zu einem Mord veranlassen könnte, aber es wollte mir nicht gelingen. »Vielleicht tötete er den biologischen Vater seines Sohnes, um so letztlich Sebastians alleiniger Vater zu werden.«
Rosa kam über die Wiese gelaufen und legte mir einen Stock vor die Füße. Ich bückte mich danach und warf ihn weit über die Wiese. Dann berührte ich Rena Veltes Arm und deutete auf eine Bank, die ein paar Meter weiter direkt an der Würm stand. Wir setzten uns nebeneinander.
»Selbst wenn die Gutachter irgendwann eine Erklärung seines Motivs liefern«, fuhr ich fort, »wird diese Erklärung uns nie als befriedigende Antwort dienen können.
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