Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verstummen der Kraehe

Das verstummen der Kraehe

Titel: Das verstummen der Kraehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kornbichler
Vom Netzwerk:
ich würgen musste. Panik überschwemmte mich wie eine große Welle. Ich versuchte zu schlucken und gleichzeitig kontrolliert zu atmen. Es kostete mich eine fast übermenschliche Anstrengung.
    Tilman Velte schien mich bereits vergessen zu haben. Während ich mich aufs Überleben konzentrierte, sorgte er sich darum, keine Spuren zu hinterlassen. Er prüfte den Raum mit akribischen Blicken.
    Im Augenwinkel glaubte ich eine winzige Bewegung wahrzunehmen. Als ich meinen Kopf vorsichtig ein Stück drehte, war jedoch nichts zu entdecken. Tilman Velte bewegte sich mit dem Feuerzeug im Anschlag rückwärts zur Tür.
    »Leben Sie wohl, Frau Mahlo, und grüßen Sie Ihren Bruder von mir!« Er hob die Hand mit dem Feuerzeug.
    Ich schrie um mein Leben. Was in mir ohrenbetäubend laut war, wurde durch den Knebel zu einem Wimmern gedämpft. Es kam mir vor, als brenne ich bereits. Ich riss an den Fesseln und grub sie damit nur tiefer in meine Haut. Tränen verschleierten meinen Blick.
    Dennoch nahm ich eine schnelle Bewegung wahr. Etwas sauste auf Tilman Veltes rechten Arm nieder. Während er noch wie ein verwundetes Tier aufjaulte, traf ihn der zweite gezielte Schlag in die Kniekehlen. Im Fallen versuchte er sich umzudrehen, aber seine Angreiferin war schneller. Kaum war er auf dem Boden aufgekommen, kniete Henrike auf ihm. Während sie seinen linken Arm hinter seinem Rücken abwinkelte, hörte ich Glas splittern. Gleich darauf stand Arne im Raum und war in drei großen Schritten bei mir. Er zog mir den Knebel aus dem Mund.
    »Hier ist überall Spiritus«, brachte ich keuchend hervor, als hätten die beiden es nicht längst gerochen.
    Nachdem Arne meine Fesseln mit seinem Taschenmesser durchtrennt hatte, riss er Gardinen und Fenster auf. Licht und Luft strömten in den Raum. Er half mir auf und brachte mich auf meinen wackeligen Beinen zum Fenster. Von der Straße her blinkte das erste Blaulicht.
    Tilman Velte wehrte sich nach Kräften, aber er hatte gegen Henrike und Arne, der ihr zu Hilfe eilte, keine Chance. Neben ihm auf dem Boden lag der Baseballschläger, mit dem Henrike ihn außer Gefecht gesetzt hatte. Das Feuerzeug lag nur wenige Zentimeter davon entfernt. Arne verstand meinen ängstlichen Blick und kickte es weit genug fort.
    »In dem Jutebeutel an der Haustür ist eine geladene Pistole. Sie hat dem früheren Besitzer des Hauses gehört. Ich muss sie der Polizei geben.«
    »Darum kümmern wir uns später«, sagte Henrike. »Mach dir keine Sorgen!«
    In der vergangenen Stunde hatte ich um mein Leben geredet, jetzt fehlten mir die Worte. Ich sah sie nur an. Stumm, dankbar und in dem Bewusstsein, dass ich ohne sie nicht mehr am Leben wäre.

23
Es dauerte Tage und etliche Verhöre, bis Tilman Velte endlich preisgab, wo er meinen Bruder vergraben hatte. Und es dauerte weitere Tage, bis die Obduktion abgeschlossen und Bens Leiche freigegeben worden war. Wir begruben ihn unter einem strahlend blauen Oktoberhimmel auf dem Friedhof in Untermenzing. Die Blüten der Linde würden im nächsten Frühjahr ihren Duft verströmen.
    Die zehrenden Jahre der Ungewissheit waren endgültig vorbei. Aber so erlösend die Gewissheit auch war – so allumfassend war die Trauer. Meine Eltern schienen unter ihr zusammenzubrechen. Simon, Henrike, Arne und ich versuchten mit vereinten Kräften, sie zu stützen, ihnen zuzuhören oder mit ihnen zu schweigen, wenn ihnen nicht nach Worten zumute war. Sie verschanzten sich in ihren Wohnungen. Hin und wieder sah ich sie jedoch gemeinsam auf der Bank im hinteren Garten sitzen. Sie redeten nicht miteinander, sondern saßen nur da, jeder in seiner eigenen Gedankenwelt verfangen. Sprachlos.
    Funda brachte Unmengen von Baklava mit, weil sie überzeugt war, Zucker sei gut für die Seele. Ihre Mutter musste in diesen Tagen Dutzende Stunden mit Backen zugebracht haben. Aber mehr noch als der Zucker war Fundas Zimmerbrunnenstimme Balsam für meine Seele.
    Ziemlich schnell nach dem albtraumhaften Sonntag hatte ich meine Arbeit wiederaufgenommen. Sie hatte mir schon früher geholfen, und sie half mir auch jetzt. Abends schlief ich erschöpft in Simons Armen ein, und gegen Morgen lief ich mit Rosa und Henrikes Personenalarm über den Hof in meine Wohnung. Die Angst hatte mich noch nicht völlig aus ihrem Griff entlassen.
    Zweimal zog es mich in den schlaflosen Morgenstunden in Bens Zimmer im Dachgeschoss. Beim ersten Mal entdeckte ich dort meinen Vater, der auf dem Bett meines Bruders eingeschlafen war. Beim zweiten

Weitere Kostenlose Bücher