Das verstummen der Kraehe
will ich nicht, dass du dabei bist. Denn dann könnten wir beide Ärger bekommen.«
»Bist du immer so fürsorglich?«
»Mitarbeiterinnen, die sich vor nichts ekeln, sind seltene Schätze.«
Sie grinste und machte sich an die Arbeit. Wir hatten kaum begonnen, als mein Handy klingelte. Ich schaute aufs Display und nahm den Anruf entgegen.
»Du musst sofort kommen, Kris«, rief mein Vater ins Telefon.
Allein der Ton seiner Stimme versetzte mich in Alarmbereitschaft. »Was ist passiert?«
»Die Bonsais deiner Mutter … jemand hat … komm schnell her! Bitte.«
Als wir auf den Hof fuhren, standen dort Simon, Henrike und meine Eltern. Allesamt starrten sie auf die Mauer, auf der die Bonsaibäume meiner Mutter in einer Reihe standen. In Windeseile parkte ich den Wagen und lief mit Funda im Schlepptau auf die kleine Gruppe zu. Bis auf den Strom tuschegeschwärzter Tränen, der über ihre Wangen lief, wirkte meine Mutter wie erstarrt. Mein Vater stand mit hängenden Armen neben ihr. Henrike warf den Bäumen von der anderen Seite der Mauer aus intensive Blicke zu, als könnten sie ihr etwas erzählen.
Was war passiert? War einer der Bäume gestohlen worden? Blitzschnell zählte ich sie durch. Sie waren vollzählig.
»Was ist denn los?«, fragte ich irritiert.
Henrike trat dicht an die Mauer und drückte mit dem Zeigefinger gegen eine der kleinen Baumkronen. Der obere Teil des Miniaturapfelbaums kippte zur Seite. Der Stamm war fast vollständig durchsägt worden. Henrike vollführte die gleiche Prozedur mit einer Kiefer.
»Alle sind angesägt«, sagte sie.
»Wer tut denn so etwas?« Meine Mutter brachte die Worte kaum heraus.
»Idioten, die mit ihrer Zeit nichts anzufangen wissen«, meinte Funda und strich zart über den Stamm einer Ulme. »Lassen die sich nicht irgendwie kitten?«
Meine Mutter schüttelte den Kopf und atmete schwer. »Sobald die Wunde angetrocknet ist, wird der Baum nicht mehr versorgt. Dann ist es vorbei.«
»Die Arbeit von so vielen Jahren … einfach durchgesägt.« Mein Vater wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln.
»Dann müssen eben neue her«, meinte Funda pragmatisch. »Bei Kölle gibt’s welche, die hatten neulich erst so eine Aktion.«
Fast wäre ich in ein erlösendes Lachen ausgebrochen. Funda war neu auf dem Hof, sie hatte noch keinen einzigen der Vorträge meiner Mutter über Bonsais gehört. Sie wusste nichts von der jahrelangen Arbeit, dem unermüdlichen Zuschneiden, Zupfen, Düngen und Wässern. Sie wusste nicht, dass hinter der Form eines jeden Bonsais ein ausgefeiltes Konzept, ein Plan steckte. Und sie wusste nicht einmal annähernd etwas über den Wert dieser Bäume. Solche, wie sie dort vor uns auf der Mauer standen, würden im Fachhandel jeweils zwischen ein- und zweitausend Euro kosten. Nach oben hin gab es beinah keine Begrenzung. Das, was unter der Bezeichnung Bonsai in normalen Gärtnereien angeboten wurde, war für Experten wie meine Mutter eine Beleidigung ihrer Sinne und ihrer Kunst.
Ich ging zu ihr und strich ihr über den Rücken. »Geh ins Haus, Mama. Wir machen das hier.«
»Aber …«
»Geh einfach.« Ich warf meinem Vater einen unmissverständlichen Blick zu. Er nahm die Hand meiner Mutter und zog sie hinter sich her.
»Ich hole die Biotonne«, sagte Henrike kämpferisch.
»Was kann ich tun?«, fragte Funda.
Ich lächelte sie dankbar an. »Im Büro die Stellung halten.«
Simon kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. Für einen Moment lehnte ich die Stirn an seine Schulter.
»So jemand dürfte mir nicht über den Weg laufen«, flüsterte er. »Deine Mutter tut mir leid.«
Ich richtete mich auf, trat einen kleinen Schritt zurück und sah ihm in die Augen. »Das ist schlimm für sie.«
»Ich weiß.« Er entknotete das Kopftuch und zog es von meinen Haaren. Zärtlich strich er mir über die Schläfen. »Ich habe dich vermisst heute Nacht. Warum bist du nicht rübergekommen?«
»Ich war todmüde.«
»Nicht mehr sauer wegen gestern?«
Ich schüttelte den Kopf und hoffte, dass damit auch gleich die Flausen aus meinem Hirn flogen.
Simon küsste mich und sah mich anschließend forschend an. »Sicher?«
»Ganz sicher.«
»Okay, dann mache ich mich jetzt auf den Weg. Ich habe heute ziemlich viele Auslieferungen vor mir und danach noch eine Weinprobe in Augsburg.«
»In Augsburg?«
»Ja, ein Stammkunde, der umgezogen ist. Ich komme erst morgen Vormittag zurück. Kannst du dich um Rosa kümmern?«
»Kein Problem.«
Simon fuhr gerade vom Hof,
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