Das verstummen der Kraehe
setzte mich auf die Gartenbank ins erste Sonnenlicht, blies in meinen Kaffee und verdammte das Fahrwasser, auf das ich da gerade zutrieb. Ich hatte Martin Cordes zwar gesagt, dass er keine Chance bei mir hätte, aber ich musste mir eingestehen, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Würde Simon nicht auf mich warten, hätte ich Martin Cordes durchaus einen zweiten Blick gegönnt. Obwohl ich nicht so genau hätte sagen können, wieso. War es der Eindruck, dass er in sich ruhte? Oder war es diese Leichtigkeit, mit der er das Leben zu nehmen schien? Eine Leichtigkeit, die ich bei Simon, aber auch bei mir manchmal vermisste.
Das leise Pling einer SMS riss mich aus meinen Gedanken. Henrike schrieb: Hast du Lust auf eine Runde durch den Langwieder See? Ich bin in zehn Minuten dort .« Ich antwortete: » Bin gleich da. «
Fünf Minuten später saß ich in meiner alten Gurke und fuhr Richtung Autobahn. Es war kurz vor sieben, und ich reihte mich in den starken Montagmorgenverkehr ein. Bei der zweiten Ausfahrt verließ ich die Autobahn und stellte keine drei Minuten später meinen Wagen auf dem Parkplatz neben Henrikes ab. Außer unseren standen um diese Uhrzeit nur zwei weitere Autos dort. Es gab nicht viele, die hier so früh am Morgen schwammen. Die meisten kamen zum Sonnenbaden und verbrachten den ganzen Tag hier. In zwei Stunden würde der Parkplatz gefüllt sein.
Henrike ließ sich mit geschlossenen Augen im Wasser treiben. Mit ein paar kräftigen Zügen war ich neben ihr. Am gegenüberliegenden Ufer stand ein älteres Paar bis zu den Knien im See und übte sich im Wassertreten. Bis auf die kleinen Wellen, die wir verursachten, war die Wasseroberfläche glatt. Die Sonne spiegelte sich darin.
»Den See werde ich im Winter vermissen«, sagte Henrike. Sie räkelte sich im Wasser wie eine zufriedene Katze. »Arne kann nicht schwimmen. Wer hätte das gedacht.«
Ich drehte mich ebenfalls auf den Rücken und ließ mich treiben.
»Hast du eigentlich schon viele Frauen bei ihm ein und aus gehen sehen?«, fragte sie.
»Du bist die Erste, von der ich weiß, seit ich ihn kenne. Also ist er entweder sehr diskret oder sehr wählerisch.«
»Ich bin für wählerisch.«
»Henrike, hast du dich eigentlich schon mal in jemanden verguckt, während du in einen anderen verliebt warst?«
»Nein. Was hat er, was Simon nicht hat?«
Eine so direkte Frage war typisch für Henrike. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie wichtig sie mir geworden war. Hätte mich jemand gefragt, was sie mir bedeutete, hätte ich geantwortet, dass sie meine beste Freundin war – und das, obwohl es längst keine andere Freundin mehr gab. Meine Studienfreundinnen hatte ich auf unseren unterschiedlichen Lebenswegen verloren. Sie hatten weiterstudiert, während ich nach meinem Bruder gesucht und mich in die Arbeit geflüchtet hatte.
»Kris?«, unterbrach Henrike meine Gedanken und wiederholte ihre Frage.
»Er strahlt eine gewisse Leichtigkeit aus und wirkt so völlig unbeschädigt vom Leben. Weißt du, was ich meine?«
»Lass die Finger davon! Es ist immer besser, wenn beide beschädigt sind. Oder eben nicht. Aber die Betonung liegt auf beide . Irgendwann wäre er dir zu unbeschädigt vom Leben. Du brauchst einen Mann, der deine Macken versteht.«
»Welche Macken?«, fragte ich und spürte, wie ein breites Grinsen meine Gesichtszüge entspannte. »Einmal bis zum anderen Ufer und zurück?«
»Muss das sein?«
Anstelle einer Antwort schwamm ich los, als gelte es, einen Rekord aufzustellen. Henrike holte schnell auf und hielt sich neben mir. Wir hatten beide eine gute Kondition. In Badetücher gehüllt ließen wir uns am Ufer nieder.
»Wo warst du gestern Nachmittag?«, fragte Henrike schwer atmend. »Ich wollte dich zu einem Eis überreden.«
»Erst habe ich mich mit Bens ehemaligem Kommilitonen getroffen und danach mit Theresa Lenhardts Detektiv.«
»Und welcher ist der Unbeschädigte?«
Mein strafender Blick musste als Antwort ausreichen.
»Schon gut, was ist dabei herausgekommen?«
Nachdem ich ihr eine ausführliche Zusammenfassung der Fakten geliefert hatte, zog ich ein kurzes Resümee. »Mein Bruder war ein völlig harmloser Vierundzwanzigjähriger, Henrike. Ich …«
»Also, die Gleichung jung gleich harmlos hat sich mir noch nie erschlossen«, unterbrach sie mich.
»Und mir erschließt sich die Gleichung Informatikstudent gleich Hacker nicht. Es muss irgendetwas anderes gewesen sein, das ihn – wenn überhaupt – mit einem der
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