Das verstummen der Kraehe
Bruder behauptet, auf der externen Festplatte befänden sich wichtige Fotos – Fotos, die einigen Leuten gefährlich werden könnten. Er würde sie an einem sicheren Ort verwahren.«
»Hast du diesen Jungen vorher schon mal gesehen?«
»Nein.«
»Was daran klingt in deinen Ohren nach einem Scherz?«
»Ben hat öfter mal solche Geschichten erzählt und sich dann kaputtgelacht, wenn man ihm auf den Leim gegangen ist.«
»Wann war der Junge mit der Festplatte da gewesen?« Ich musste mir Mühe geben, ruhig zu bleiben.
»Ein paar Wochen bevor Ben verschwand.«
»Und das hast du der Polizei verschwiegen? Ich fasse es nicht, Nils!«
»Jetzt übertreib mal nicht, Kristina. Glaubst du, ich hätte mir keine Gedanken darüber gemacht? Als er plötzlich wie vom Erdboden verschluckt war, hab ich in der ganzen Wohnung nach dieser Festplatte gesucht. Immerhin hätte es ja sein können, dass doch etwas dahintersteckte. Aber da war nirgends eine Festplatte versteckt. Er hat mir einen Bären aufgebunden.«
»Also hast du damals sein Zimmer durchsucht.«
»Na klar habe ich das. Und ich bin froh, dass ich es gemacht habe. Sonst hätte ich euch womöglich auf eine völlig falsche Fährte gelenkt.«
»Jede Fährte wäre besser gewesen als gar keine. Wie konntest du dir anmaßen zu entscheiden, was ein Scherz ist und was nicht? Es ist das erste Mal, dass ich von dieser Festplatte höre! Er hätte sie an jemanden geschickt haben können, er hätte sie im Garten vergraben haben können, er hätte ein Bankschließfach gemietet haben können … es gibt tausend Möglichkeiten!«
»Ja, und die wahrscheinlichste ist, dass es einfach eine seiner Geschichten war.« Nils war anzuhören, dass er allmählich ungehalten wurde. »Das gebietet schon die Logik. Wenn man etwas verwahrt, das einem anderen gefährlich werden kann, dann doch nur deshalb, damit man gegen diesen Jemand ein Druckmittel in der Hand hat. Und wenn es um die eigene Sicherheit geht, dann ist dieses Druckmittel nur dann etwas wert, wenn es im Notfall ins Spiel gebracht werden kann, und zwar von einer dritten Person. Irgendjemand hätte davon wissen müssen. Aber hat sich jemand gemeldet? Nein. Verstehst du, Kristina? Wenn jemand das Ding in den vergangenen Jahren gefunden hätte, wüsstest du davon. Es war ein belangloser Scherz. Zugegeben – einer, der im Nachhinein ziemlich makaber klingt. Ich hätte es dir gar nicht erzählen sollen. Mein Fehler.«
»Ein Fehler war es, dass du damals den Mund nicht aufgemacht hast.«
»Ich warne dich, Kristina, solltest du damit zur Kripo gehen, sage ich, dass du dir das ausgedacht hast, um die Untersuchungen wieder ins Rollen zu bringen. Hast du mich verstanden?«
»Du kannst froh sein, dass ich für mich behalte, was ich von dir denke.«
9
Henrike hatte die Bonsaischalen bereits ausgewaschen und hinter der Scheune verstaut. Kurz vor Ladenschluss kaufte ich in der Gärtnerei mehrere Töpfe mit einem bunten Potpourri von Pflanzen und verteilte sie auf der Mauer. Dann setzte ich mich eine Weile zu meiner Mutter und hielt ihre Hand. Auf ihren Wangen zeichneten sich die Spuren getrockneter Tränen ab. Stumm und zusammengesunken saß sie da und fand keine Worte für das Massaker an ihren Bäumen. Ich versuchte sie zu trösten, aber auch mir fehlten die Worte.
Ich war froh, Rosa mitgenommen zu haben. Die Hündin drückte sich so lange gegen die Beine meiner Mutter, bis deren Hand in ihr Fell fand und es mit zitternden Fingern streichelte. Als meine Mutter sagte, sie wolle sich einen Moment hinlegen, ließ ich Rosa bei ihr und ging ein Stockwerk höher zu meinem Vater.
Er hatte sich mit einer Flasche Weißwein an seinen Esstisch zurückgezogen und hob nicht einmal den Kopf, als ich mich zu ihm setzte. Die Küche war funktional und bestand nur aus dem Nötigsten. Die Einrichtung war das Gegenteil der farbenfrohen Möbel meiner Mutter. In der Spüle standen zwei mit Wasser und Spülmittel gefüllte Töpfe, daneben ein Stapel schmutziger Teller. Von diesem Tag würden sie nicht stammen. Wie ich meinen Vater kannte, hatte er seit der Sache mit den Bonsais keinen Bissen mehr herunterbekommen.
»Papa?«
Er atmete schwer. »Ich kann dir gar nicht beschreiben, welche Rachegedanken mir durch den Kopf gehen.«
»Ich kann es mir vorstellen. Aber ein Kettensägenmassaker an dem, der die Bäume so zugerichtet hat, würde keinen einzigen wiederherstellen.«
»Und was ist mit meinem inneren Gleichgewicht?«
»Das würdest du damit auch
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