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Das verstummen der Kraehe

Das verstummen der Kraehe

Titel: Das verstummen der Kraehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kornbichler
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mitgehe«, rief ich ihr hinterher.
    Sie lief mit ausgreifenden Schritten ein Stück voraus, nicht ohne sich immer wieder zu vergewissern, dass ich noch hinter ihr war. »Welche?«
    »Kein Wort über den Überfall zu meinen Eltern, vor allem nicht zu meiner Mutter. Die muss sich erst einmal von den massakrierten Bonsais erholen. Und kein Wort zu Simon. Ich habe keine Lust auf all die Erklärungen.«
    Mit einem Ruck blieb sie stehen und drehte sich zu mir. »Kris, hast du schon mal davon gehört, dass andere Menschen einem auch Trost spenden und einen in den Arm nehmen können?«
    »Hab ich.«
    »Jeder muss sich hin und wieder mal anlehnen.«
    »An wen lehnst du dich an?«
    Sie stöhnte auf und schickte einen genervten Blick in den blauen, mit kleinen weißen Wölkchen durchsetzten Himmel. »Okay, kein Wort, versprochen. Dafür versprichst du mir, dass du zur Polizei gehst und Anzeige erstattest.«
    »Das bringt doch nichts.«
    »Erklär das mal der nächsten Frau, die im Park überfallen wird!«
    Ich verschränkte die Arme vor der Brust und holte tief Luft. »Weißt du, was ich von einem Polizeibeamten zu hören bekommen habe, als ich vor zwei Jahren Anzeige erstatten wollte, weil mir mein Fahrrad gestohlen wurde? Es würde mit Sicherheit nichts dabei herauskommen, aber wenn ich darauf bestünde, würde er meine Anzeige natürlich aufnehmen. Wahrscheinlich sind solche Beamten der Grund dafür, dass die bayerische Kriminalitätsrate so niedrig ist.« Ich biss mir auf die Unterlippe.
    Henrike hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt. Zwei Joggerinnen mussten sie ebenso umrunden wie eine Mutter mit Kinderwagen und Labrador. Henrike schien sie gar nicht wahrzunehmen. »Da es ja im Sinne einer konstruktiven Auseinandersetzung direkte Du-Botschaften zu vermeiden gilt, drücke ich es mal so aus: Ich empfinde dich als ungeheuer sperrig und dickköpfig.«
    »Und ich empfinde dich als penetrant.«
    Sie setzte sich wieder in Marsch. »Wie gut, dass wir das geklärt haben!«
    Das Lachen, das in mir aufstieg, hatte etwas Befreiendes und bildete ein Gegengewicht zu den beklemmenden Gefühlen, die mich überschütteten, je näher wir der Stelle kamen. »Da vorne ist es«, rief ich Henrike zu, die ein paar Meter vorausgeeilt war. Kurz darauf stand ich mit klopfendem Herzen an dem Ort, den ich am vergangenen Abend für immer von der Liste meiner Lieblingsstellen gestrichen hatte.
    »Setz dich dort auf die Bank, und vergiss nicht zu atmen.«
    Während Henrike die Umgebung in einer Weise betrachtete, als sei sie Mitglied eines Spurensicherungsteams, schaute ich mich in alle Richtungen um. Obwohl es über zwanzig Grad waren, fröstelte ich. Mein Hals war wie zugeschnürt. Eines wusste ich schon jetzt: Im Dunkeln würde ich den Park nicht mehr betreten. Bei dieser Erkenntnis braute sich eine ungeheure Wut in mir zusammen. Wer immer dieser Kerl war, er hatte Erfolg auf ganzer Linie gehabt. Nicht nur, dass er mich völlig verschreckt hatte, er hatte auch meinen Bewegungsradius eingeschränkt.
    »Ideale Stelle, noch dazu im Dunkeln«, sagte Henrike in meine Gedanken hinein. »Hier hat er in jede Richtung abhauen können.«
    »Dann war ich ihm ja sogar behilflich. Bravo!«
    »Zieh deine Krallen ein. Du weißt, dass ich es so nicht gemeint habe.«
    »Meine Krallen sind mir bei dem Überfall abgebrochen. Bist du fertig? Ich will hier weg.«
    Henrike schob die Hände in die Hosentaschen und sah mich an. »Ich hab eine Idee. Komm mit!«
    Ohne meine Reaktion abzuwarten, lief sie zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Nach zweihundert Metern blieb sie stehen und wartete, bis ich bei ihr war. Dann deutete sie auf die alte Eiche, die am Rand der Wiese stand. »Du liebst es doch, auf Bäume zu klettern. Also los.«
    »Nicht, wenn mir jemand zuguckt.«
    »Ich habe nicht vor, nur zuzugucken!«
    Der Stachel saß. Sosehr ich mich auch bemühte, ich bekam den Gedanken, Ben könne noch leben und sich vor uns verstecken, nicht mehr aus dem Kopf. Wann immer ich mich in den vergangenen Jahren gefragt hatte, was mit ihm geschehen war, hatte ich ihn als Opfer gesehen, nie, in keinem einzigen Moment, als Täter. Henrike hatte mit ihren Fragen alles auf den Kopf gestellt.
    Ich versuchte mir vorzustellen, Ben habe mich unter Wasser gedrückt, aber es war im wahrsten Sinne des Wortes unvorstellbar. Könnte er jemanden beauftragt haben, mich zu bedrohen? Nie und nimmer!
    Bei meiner Arbeit als Nachlassverwalterin sammelte ich Tag für Tag jede

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