Das verstummen der Kraehe
Menge Erfahrungen, was die menschliche Gier betraf. Über die üblichen Beschleunigungsversuche ungeduldiger Erben ging die Attacke jedoch weit hinaus. Ich war in einer Weise bedroht worden, wie ich es noch nie erlebt hatte. Normalerweise hatte ich es mit Telefonterror und Bestechungsversuchen zu tun, mit Schmeicheleien und Beleidigungen – aber nicht mit körperlichen Angriffen. Wen hatte ich mit meinen Recherchen nervös gemacht?
»Hallo? Kristina!«
Ich zuckte zusammen. »Entschuldige, Funda, ich war in Gedanken. Was hast du gesagt?«
»Ich wollte wissen, was ich als Nächstes tun soll. Die beiden Anfragen beim Grundbuchamt sind erledigt, wegen der Wohnung in Laim habe ich den Stromanbieter kontaktiert und den Vertrag gekündigt, und die Kontoauszüge, die du mir hingelegt hast, habe ich überprüft.« Sie wippte auf ihrem Stuhl.
»Welchen Eindruck hast du?«
»Ich habe mir die letzten zwölf Monate angeschaut. Die Ein- und Ausgänge sind regelmäßig und überschaubar. Die Frau hat zum Beispiel immer am Anfang der Woche hundert Euro von ihrem Konto abgehoben. Im letzten Vierteljahr waren es dann deutlich mehr, mal dreihundert, mal fünfhundert. Ich habe in der Akte nachgeschaut, zu der Zeit war die Frau im Pflegeheim.«
»Hat sie das Geld am Schalter geholt oder am Automaten abgehoben?«
»Automat, mit ihrer EC-Karte. Seltsam, wenn jemand im Pflegeheim liegt.« Fundas detektivische Ader, von der sie mir erzählt hatte, schien geweckt worden zu sein.
»Vermutlich hat sie jemanden gebeten, ihr das Geld zu besorgen.«
»Und der- oder diejenige hat dann gleich etwas für sich abgezwackt?«
»Das ist nicht unbedingt gesagt. Aber möglich. Ich werde im Pflegeheim nachfragen, wer sie dort betreut hat.«
»Jemand, der sich die eigenen Taschen füllt, würde das doch nicht freiwillig zugeben.«
»Aber er oder sie wird sich zumindest ertappt fühlen. Und die Heimleitung kann ein Auge darauf haben.«
»Passiert so etwas öfter?«, fragte Funda, die sich vom Klingeln des Telefons nicht angesprochen fühlte. Drei Tage in diesem Büro, und sie war immun dagegen.
»Hin und wieder. Auf ein Unrechtsbewusstsein kannst du dich dabei nicht verlassen. Diese Leute reden sich manchmal selbst ein, dass sie den Menschen, den sie bestehlen, über Gebühr gut betreut haben und ihnen das Geld zusteht. Und da geht es dann längst nicht immer nur um fünfhundert Euro.«
»Machst du deshalb diese Plausibilitätsprüfungen der Kontoauszüge?«
Ich nickte. »Das ist zwar eine der langweiligeren Arbeiten, aber ich mag es nicht, wenn jemand übers Ohr gehauen wird, erst recht nicht von Menschen, denen er vertraut.«
Funda sah mich sekundenlang zufrieden an, als habe ich eine Prüfung bestanden. »Was hältst du zur Abwechslung mal von einem Tee?«, fragte sie. »Ich habe schwarzen gekocht, der Tote aufweckt, und türkische Teegläser mitgebracht. Daraus schmeckt der Tee einfach besser. Deiner Mutter habe ich vorhin auch schon einen verpasst.«
Wie hatte ich meine Mutter vergessen können? Ich machte auf dem Absatz kehrt und wollte direkt zu ihr hochlaufen, als Funda mich zurückhielt.
»Sie ist im Hotel. Sie meinte, Arbeit sei die beste Ablenkung. Mach dir keine Sorgen um sie, Kristina. Wir haben zusammen Tee getrunken, sie hat von den Bäumen erzählt, und als sie ging, war sie eigentlich ganz okay.«
»Danke.«
»Oh, und bevor ich es vergesse: Ich habe Alfred heute Morgen seine Nuss gegeben. Er hat da draußen ziemlich herumkrakeelt. Als er mich sah, war er erst sehr argwöhnisch, aber die Aussicht auf eine Nuss hat gesiegt. Hattet ihr übrigens eine gute Aussicht auf dem Baum dort drüben im Park?«
»Du hast uns gesehen?«
»Reiner Zufall, als ich draußen bei der Krähe war. Macht ihr das öfter?«
»Henrike nicht, ich schon. Für mich ist es besser als jede Entspannungsübung.«
»Da lege ich mich lieber in die Badewanne, das ist weniger gefährlich«, sagte Funda und ging in die Küche.
Bei dem Wort gefährlich durchzuckte es mich, und das Erlebnis vom vergangenen Abend war sofort wieder in meinem Kopf. Ich betrachtete Rosa, die zusammengerollt im Korb neben meinem Schreibtisch schlief. Bei ihr würde der Ausflug in den Park auch Spuren hinterlassen haben. In diesem Moment kam mir eine Idee. Henrike hatte mich gefragt, ob ich mich an einen Geruch erinnerte. Keine von uns hatte an Rosa gedacht. Sie würde sich ganz sicher an den Geruch desjenigen erinnern, der mich überfallen und sie getreten hatte. Ein Hund
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