Das verstummen der Kraehe
umzugehen, wie mir mit ihnen. Ich habe mich lange für nichts anderes interessiert als für die Suche nach Ben. Natürlich hatten die anderen auch ihre Sorgen, ich weiß das, aber in mir war kein Raum dafür. Es war, als wären alle freien Plätze besetzt.« Sie schluckte. »Und dein Vater und ich … wir hatten so viele Pläne, wir wollten mehr reisen, wir wollten endlich einen Tanzkurs machen … uns ist die Perspektive verloren gegangen.«
Ich sah zu, wie Tränen ihre Wangen hinabliefen, und strich über ihre Hand. Die freien Plätze für die Sorgen der anderen waren schon viel früher besetzt gewesen, nicht erst, als Ben verschwand. Es hatte mit seiner frühen Geburt und seinen Anfangsschwierigkeiten begonnen. Ben hatte diese Schwierigkeiten hinter sich gelassen, aber bei meinen Eltern hatten sie Spuren hinterlassen.
»Ich bin froh und dankbar, dass du so gut zurechtkommst, Kris. Nicht auszumalen, wie es wäre, wenn wir uns um dich auch noch Sorgen machen müssten.«
Ich hatte Verständnis für meine Mutter, aber auf derartige Sätze hätte ich verzichten können.
Kaum hatte ich die Tür leise hinter mir geschlossen und das Licht eingeschaltet, brachte das Klingeln des Telefons mein Herz zum Rasen. Zu ungewöhnlichen Zeiten kam es für mich einem Alarmsignal gleich. »Unbekannter Anrufer«, stand auf dem Display. Ich drückte die grüne Taste und meldete mich. Es war das Atmen, das ich bereits aus Theresa Lenhardts Wohnung kannte. Gehörte es zu demjenigen, der mich überfallen hatte? Ich bekam eine Gänsehaut und zog die Gardinen zu.
»Es gibt viele Arten der Kommunikation«, sagte ich in möglichst gelassenem Ton, »Atmen gehört nicht dazu.« Mit der roten Taste setzte ich dem Ganzen ein Ende.
Bevor ich unter die Dusche ging, verriegelte ich die Wohnungstür. Dann ließ ich Unmengen heißen Wassers über meinen Nacken strömen und versuchte mich mit Gedankenspielen zu den unterschiedlichen Mordmotiven abzulenken. Fritz Lenhardt, Tilman Velte, Christoph und Beate Angermeier – alle hatten sich auf die eine oder andere Weise erpressbar gemacht. Das Testament von Theresa Lenhardt hatte etwas von einem Akt der Verzweiflung. Sie hatte mir eine unlösbare Aufgabe zugeschoben und musste sich dessen bewusst gewesen sein. Die Aussicht auf ihr Erbe verfehlte zwar nicht ihre Wirkung, aber es war nicht die, die Fritz Lenhardts Witwe sich durch die Aussetzung des Kopfgeldes erhofft hatte. Ich erhielt jede Menge Informationen, erfuhr von Leichen in den Kellern der ehrenwerten Freunde – aber es gab keinerlei klare Beweise.
Vielleicht gelingt es Ihnen, auf der Seite Ihres Bruders das Ende eines Fadens aufzunehmen und es mit dem Gast unserer Tafelrunde zu verbinden, den Konstantin an jenem Abend zu erpressen versucht hat. Ich murmelte diesen Satz aus ihrem Brief immer wieder vor mich hin, ich kannte ihn inzwischen auswendig. Aber es führte kein Faden zu Ben.
Funda nahm meine ebenso griesgrämige wie einsilbige Laune an diesem Morgen mit Gelassenheit. Mit ihrer sanften Zimmerbrunnenstimme erzählte sie von ihrer Tochter, die gestern Nachmittag den Fußboden der Wohnung mit Mehl bestäubt und sich dann an ihren Fußabdrücken erfreut habe. Dass das nur Minuten nachdem Funda den Boden gewischt hatte, geschah, kam nach ihrer Ansicht einem Naturgesetz gleich. »Das ist wie das Marmeladenbrot, das immer mit der bestrichenen Seite nach unten auf dem Teppich landet«, sagte sie lachend. »Ist aber nicht so schlimm! Außerdem läuft dienstagabends immer meine Lieblingsserie im türkischen Fernsehen, die macht so ziemlich jedes Missgeschick sofort vergessen. Öyle Bir Gecer Zaman Ki , auf Deutsch Wie die Zeit vergeht . Hast du davon schon mal gehört? Wahrscheinlich nicht. Die Serie spielt in den Achtzigerjahren und ist Drama pur, sage ich dir. Ohne Tränen schaffe ich keine einzige Folge. Welche Sendung schaust du am liebsten?«
»Mein Fernseher ist kaputt.«
Funda sah mich voller Mitgefühl an. »Bevor ich es vergesse, ich hab übrigens vorhin ein paar von den Keksen in der Küche gegessen. Zum Frühstücken war heute Morgen keine Zeit, und mir hat der Magen geknurrt.«
»Welche Kekse?«, fragte ich alarmiert.
»Die in der Dose auf der Fensterbank.« Als sie meinen Gesichtsausdruck sah, entgleiste ihre fröhliche Miene. »Oje, die waren für jemand anderen gedacht … abgezählt? Weißt du was? Ich laufe los und hole neue, wenn du mir sagst, wo es sie gibt.«
»Meine Mutter hat sie gebacken. Und sie sind für
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