Das verstummen der Kraehe
aus dem Sinn gegangen«, fuhr Arne fort. »Stellt euch vor, der Mann war wirklich unschuldig. Dann wurde durch ein Fehlurteil sein ganzes Leben zerstört und das seiner Frau gleich mit. Ich habe damals jeden Artikel über den Prozess gelesen. Für mich klangen seine Aussagen plausibel.«
»Die Beweise haben eine andere Sprache gesprochen«, entgegnete Henrike.
»Sie könnten fingiert worden sein. Ich habe neulich erst einen Artikel über Justizopfer gelesen. Die sind gar nicht so selten, wie wir meinen. Dort stand, dass die Richter in den Zivilverfahren, die den Strafprozessen folgen und in denen es um Schadenersatz geht, in mehr als einem Viertel der Fälle anders entscheiden, was die Schuldfrage betrifft. Das bekommt in der Öffentlichkeit nur niemand mehr mit. Außerdem müsst ihr euch nur mal die Zahlen über Haftentschädigungsleistungen ansehen! Da bekommt man eine Vorstellung davon, wie viele Menschen jahrelang unschuldig im Gefängnis sitzen. Das hat mein Vertrauen in den Rechtsstaat ziemlich erschüttert. Ich mag mir gar nicht vorstellen, auf welche Ideen ich käme, wenn ich unschuldig hinter Gittern wäre.«
Henrike streckte ihren Fuß aus und strich damit über Arnes Schienbein. »Vielleicht würdest du deine Lebensgeschichte aufschreiben. Ich würde sie lesen.«
»Vorher würde ich gerne deine lesen.« Arne warf ihr einen eindeutigen Blick zu und schwieg.
Ich stand auf, lief hinein zu meiner Tasche, die ich im Eingangsbereich abgelegt hatte, und holte den sorgsam verpackten Schokomuffin mit der kleinen Kerze hervor. Ich wollte meine Tasche gerade wieder schließen, als ich mein Handy blinken sah. Nils hatte mir eine SMS geschickt. Er fragte, ob ich weitergekommen sei bei meinen Recherchen. Ich schrieb: Nein, kein Stück , sparte mir allerdings einen Gruß, da ich wegen der Sache mit der externen Festplatte, die Ben von einem Teenie bekommen hatte, immer noch wütend auf Nils war. Ich drückte auf »Senden« und ließ das Handy zurück in die Tasche gleiten. Vor der Terrassentür zündete ich die Kerze an. »Wenn du sie ausbläst, darfst du dir etwas wünschen, Arne.« Ich hielt sie ihm direkt vors Gesicht.
»Aber verrate uns deinen Wunsch bloß nicht«, meinte Simon trocken. »Ich habe das mal gewagt und mir von Kris eine ordentliche Standpauke eingefangen.«
»Recht hat sie«, sagte Henrike. »Der Wunsch geht nicht in Erfüllung, wenn du ihn verrätst.«
Arne schloss die Augen, holte tief Luft und blies die Kerze aus.
»Ich drücke die Daumen, dass er sich erfüllt«, sagte ich leise. Ich war mir sicher zu wissen, was er sich gewünscht hatte.
Simon hatte in der Zwischenzeit von drinnen Arnes Fotoapparat geholt. Arne stand auf, zog Henrike an sich und drehte sie Richtung Kamera.
»Dieses Mal entkommst du mir nicht«, sagte er. »Ich möchte endlich mal ein Foto von uns beiden.«
Blitzschnell wand sie sich in seinem Arm und kehrte Simon den Rücken zu. »Damit du es im Silberrahmen auf den Kaminsims stellen kannst? Das ist spießig, Arne!«
»Ich stelle es neben mein Bett.«
»Noch schlimmer«, konterte sie.
»Ein einziges Foto. Bitte.«
»Du brauchst kein Foto von mir, du kannst mich jederzeit anschauen.«
»Jederzeit ist maßlos übertrieben. Warum sträubst du dich denn so? Ich habe schließlich nicht vor, das Foto auf Facebook zu veröffentlichen. Es ist ausschließlich für den Eigenbedarf.«
Henrike lachte. »Ist das nicht der Satz, den Dealer üblicherweise zu ihrer Verteidigung anbringen?«
Obwohl Simon den Fotoapparat längst zur Seite gelegt hatte, ließ Arne nicht vom Thema ab. »Mal ehrlich: Was ist so schlimm an einem Foto?«
Henrikes Miene verfinsterte sich. Es war an der Zeit, ihr zu Hilfe zu kommen. »Was immer es ist, sie muss sich dafür nicht rechtfertigen. Sie will es nicht, und damit basta.«
Henrike würde ihre Gründe haben, da war ich mir sicher. Kurz bevor sie die Scheune von meinem Vater gemietet hatte, hatte er im Internet recherchiert und nichts, aber auch gar nichts über sie gefunden. Kein Foto und keinen Eintrag. Das hatte ihm imponiert. Es gab also noch Menschen, denen es gelang, sich den Suchmaschinen dieser Welt zu entziehen. Das war eine Kunst, die nicht nur er bewunderte.
Bevor sie sich zurück in ihren Korbsessel fallen ließ, drückte Henrike im Vorbeigehen meine Hand. Dann wandte sie sich an Simon und Arne. »Und falls ihr beiden jetzt nicht unverzüglich in die Küche verschwindet, mache ich ein Foto vom Essen, damit wir alle eine Vorstellung
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