Das verstummen der Kraehe
Bett, aber an Einschlafen war nicht mehr zu denken. Ich lauschte dem Krähen des Hahns und schaute durch den kleinen Spalt in der Gardine in den Himmel. Immer noch meinte ich, die Hände in meinem Nacken und auf meinem Mund zu spüren. Und die Panik unter Wasser. Die war am schlimmsten. Ich drehte mich auf die Seite, setzte mich vorsichtig auf, ohne dabei meine Nackenmuskeln anspannen zu müssen, und schaltete das Licht ein.
Aus der Schublade unter meinem Bett zog ich Elisabeth Weiß’ Schreibheft. Es fehlten mir nur noch ein paar Seiten ihrer Geschichte. Elisabeth Weiß und ihr Mann hatten jeden Pfennig auf die hohe Kante gelegt, um als Rentner die Reisen machen zu können, die sie sich zuvor versagt hatten. Als ich an der Stelle ankam, wo es endlich so weit war, hielt ich den Atem an, da ich meinte, bereits die Tragik zu spüren, die fast unweigerlich folgen würde. Ich hatte schon einige dieser Geschichten von Menschen gelesen, die das Leben auf später verschoben hatten, nur um im Später festzustellen, dass nicht mehr viel vom Leben übrig war.
Noch bevor Elisabeth die erste große Reise ihres Lebens antreten konnte, erkrankte ihr Mann schwer an Krebs. Das Schicksal machte die Hoffnung auf einen geruhsamen Lebensabend zunichte, und schon ein halbes Jahr später war ihre gemeinsame Zeit für immer vorbei.
Elisabeth hatte ihr Hochzeitsfoto auf die letzte Seite geklebt und bis zu ihrem eigenen Tod keinen einzigen Eintrag mehr gemacht. Sie hatte ihren Mann um siebzehn Jahre überlebt und war kurz vor ihrem achtzigsten Geburtstag gestorben. Ich erinnerte mich an ihre Wohnung. Sie war sehr ordentlich und gepflegt gewesen. Es war eine dieser Wohnungen, in denen Tische und Kommoden eifrig poliert und mit Spitzendeckchen geschützt worden waren, nur um schließlich im Container zu landen, weil niemand mehr ein Interesse daran hatte. Das Schreibheft hatte in ihrer Nachttischschublade gelegen. So, wie es aussah, musste sie oft darin geblättert haben. Ich schlug es zu, strich über den schwarzen Einband, der an einigen Stellen rissig geworden war, und legte es zurück in meine Schublade.
Voll innerer Unruhe stand ich auf und wusste nicht, wohin mit mir. Eher halbherzig checkte ich meine Mails. Matthias, Bens ehemaliger Mitbewohner, hatte vor einer halben Stunde geschrieben. Jetzt war es halb sechs.
Wollte nur schnell fragen, ob es etwas Neues gibt. Gruß, Matthias.
Nein, leider nicht , mailte ich zurück. Hält dein Sohn dich wieder wach?
Diese Sache mit den Zähnen scheint langwieriger zu sein , antwortete er innerhalb weniger Minuten. Zum Glück sagt einem das niemand vorher . Er hatte einen zwinkernden Smiley hinzugefügt.
»Mich würde nicht mal das abschrecken«, murmelte ich vor mich hin.
13
Das spätsommerliche Wetter hielt an. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel und vertrieb schon früh die morgendliche Kühle. Noch während ich im Büro alle Fenster zum Lüften öffnete, wehte von den Blumenkübeln im Hof der Duft von Lavendel herein. Ich schloss einen Moment die Augen, füllte meine Lungen mit der frischen Luft und machte mir im Geiste eine To-do-Liste für diesen Donnerstag. Es gab so viel zu erledigen, dass ich bis in den Abend hinein beschäftigt sein würde. Bevor ich loslegte, bekam Alfred noch seine Nuss. Manchmal kam es mir vor, als wären wir beide Weggefährten, als wären der Vogel und ich vom selben Schlag. Alfred hielt sich nie lange auf, sondern machte sich nach seinem Frühstück immer gleich an das nächste Projekt. Eine Pause gönnten wir uns wohl beide nur selten.
Funda kam um zwanzig nach acht und verkündete mit unglücklicher Miene, sie müsse dringend mit mir reden. Innerlich wappnete ich mich bereits für ihre Kündigung. Sie habe sich doch etwas anderes unter der Arbeit bei einer Nachlassverwalterin vorgestellt, würde sie vermutlich sagen. Eine neue Mitarbeiterin zu finden, die genauso sympathisch und lebensfroh war wie Funda, würde Monate dauern.
»Ich weiß nicht so recht, wie ich es dir sagen soll«, druckste sie herum, während sie Teewasser aufsetzte und mir dabei den Rücken zukehrte.
»Sag’s, wie es ist. Ich werde nicht gleich tot umfallen.«
»Und wenn doch?«
»Dann ist dein Problem gelöst.«
»Oh Mann, Kristina, das ist echt schwer.« Sie goss Wasser auf die Teeblätter im oberen Teil der Doppelkanne und stellte die Eieruhr auf zwanzig Minuten.
»Ich bin dir nicht böse, Funda, ich kann ja verstehen, dass es nicht jedermanns Sache ist. Vielleicht
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