Das verwundete Land - Covenant 04
bemüht, sich einzureden, sie fliehe nicht. Aber er kam ihr nach, packte sie an den Schultern. Sie wirbelte herum, als habe er sie tätlich angegriffen.
Doch es verhielt sich nicht so. Die Hände fielen ihm an die Seiten herab und zuckten, als läge ihnen dringlich daran, irgendwelche flehentlichen Gebärden zu vollführen. Covenants Gesicht wirkte offen und verletzlich, intuitiv erkannte Linden, daß sie ihn in diesem Moment alles hätte fragen können, und daß er ihr nach bestem Wissen geantwortet hätte.
»Bitte«, sagte er im Flüsterton. »Sie befinden sich in einer unmöglichen Situation, und ich habe sie Ihnen nicht erleichtert. Aber ich bitte Sie um eines. Nehmen Sie die Möglichkeit, daß ich weiß, was ich tue, zumindest ernst.«
Eine unfreundliche Entgegnung durchbrandete ihren Mund, doch sie zerstob und verebbte. Linden war wütend, nicht weil sie dazu ein Recht gehabt hätte, sondern weil Covenants Auftreten ihr zeigte, wie weit sie in Ungerechtigkeit abgeirrt war; sie schluckte, um ein Aufstöhnen zu unterdrücken, und fast streckte sie ihm eine Hand entgegen, um sich zu entschuldigen. Aber er verdiente etwas Besseres als eine bloße Entschuldigung. »Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie in sachlichem Ton. Sie vermochte seinen Blick nicht zu erwidern. »Ich verspreche Ihnen, nichts zu unternehmen, bevor ich mich noch einmal mit Ihnen unterhalten habe.«
Damit verließ sie das Haus, ergriff unverhohlen die Flucht vor Covenants unfaßbaren Überzeugungen. Ihre Hände sträubten sich wie ertappte Verräter, als sie die Autotür öffnete, hinters Lenkrad rutschte.
Den Geschmack des Versagens in ihrem Mund wie das Symptom einer Krankheit, fuhr sie zurück zu ihrem Wohnsitz. Sie bedurfte des Trostes; aber es gab keinen Trost zwischen den vergilbten Wänden, auf den abgeblätterten, abgeschälten Dielen des Fußbodens, die unter ihren Füßen ächzten wie niedergetretene Opfer. Sie hatte diese Wohnung genommen, eben weil sie keinerlei Trost bot; doch die Frau, die sie gewesen war, als sie diesen Entschluß fällte, hatte sich den Anforderungen ihres Berufs nie beugen müssen. Nun jedoch, zum erstenmal seit jenem Augenblick des Mordes vor fünfzehn Jahren, als ihre Hände die Bürde des Blutes entgegennahmen, sehnte sie sich nach Tröstung. Sie lebte in einer Welt, die keinen Trost kannte.
Weil sie nicht wußte, was sie sonst hätte tun können, ging sie ins Bett.
Erregung und klamme Bettdecken hielten sie noch lange wach; und als sie endlich schlief, liefen all ihre Träume auf Schweiß und Furcht inmitten schwüler Nacht hinaus. Der Greis, Covenant, Joan – alle plapperten sie von Ihm , versuchten sie zu warnen. Ihm , von dem Joan besessen war, zu Zwecken, die zu scheußlich waren, um Näheres erfahren zu können. Ihm , der ihnen allen Schaden zuzufügen gedachte. Zuletzt aber sank sie in tieferen Schlummer, und die Bedrohung zog sich zurück in ihr Versteck.
Linden erwachte durch Klopfen an ihre Tür.
Ihr Kopf fühlte sich an, als sei er von Alpträumen geschwollen, und das Pochen zeichnete sich durch eine gewisse Zaghaftigkeit aus, als glaube derjenige, der da anklopfte, in der Wohnung lauere Gefahr. Nichtsdestotrotz besaß das Klopfen für Linden einen gebieterischen Klang. Sie war Ärztin.
Sobald sie die Augen aufschlug, drang ihr die Helligkeit des späten Morgens ins Hirn. Mit einem Ächzen stieg sie aus dem Bett, schob die Arme in ihren Bademantel und ging die Tür aufmachen.
Auf dem Treppenabsatz stand schüchtern eine kleinwüchsige Frau mit flattrigen Händen und scheuen Augen. »Dr. Avery?« fragte sie mit zittriger Stimme. »Dr. Linden Avery?«
Mühsam räusperte sich Linden. »Ja.«
»Dr. Berenford hat mich angerufen.« Anscheinend hatte die Frau keine Ahnung, um was es sich bei dem, was sie vortrug, eigentlich drehte. »Ich bin seine Sekretärin. Samstags arbeite ich nicht, aber er hat mich angerufen. Sie haben ja noch kein Telefon. Er möchte, daß Sie sich mit ihm treffen. An sich müßte er jetzt die Visite durchführen.«
»Ihn treffen?« Beunruhigung durchfuhr Linden. »Wo?«
»Er hat gesagt, Sie wüßten wo.« Eigensinnig sprach die Frau weiter. »Ich bin seine Sekretärin. Ich arbeite samstags nicht, aber ich bin jederzeit froh, wenn ich ihm irgendwie helfen kann. Er ist ein prächtiger Mensch ... ein guter Arzt. Seine Frau hat Polio gehabt. Er müßte wirklich eigentlich die Visite machen.«
Linden schloß die Augen. Wäre sie imstande gewesen, genug Kraft
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