Das verwundete Land - Covenant 04
über einen ausreichenden Hintergrund verfügen, schaute er für eine Sekunde betroffen drein; doch dann schüttelte er nachdrücklich den Kopf. Sie konnte ihm, als er erneut den Mund öffnete, nicht ansehen, für welche Art von Antwort er sich entschieden hatte.
»Ich wüßte selbst nichts davon«, erklärte er, »hätten mich nicht ihre Eltern verständigt. Vor ungefähr einem Monat. Sie haben wenig für mich übrig, aber sie waren vollkommen außer sich vor Ratlosigkeit. Deshalb haben sie mir alles erzählt, was sie wußten. Es ist an sich eine alte Geschichte, würde ich sagen. Neu ist daran lediglich die Weise, wie sie Leid bereitet. Joan hat sich von mir scheiden lassen, als sich herausstellte, daß ich Leprose hatte. Das war vor elf Jahren. Sie hat Roger genommen und ist zu ihrer Familie zurückgezogen. Sie hielt das für angebracht ... Ach, zum Teufel, ich selbst habe jahrelang geglaubt, es sei gerechtfertigt. Immerhin sind Kinder ja für Leprose anfälliger als Erwachsene. Sie hat sich also von mir scheiden lassen. Um Rogers willen. Aber es ging nicht gut. Tief in ihrem Inneren kam sie zu der Überzeugung, mich im Stich gelassen zu haben. Es fällt schwer, sich selbst zu verzeihen, daß man jemanden im Stich gelassen hat, den man liebt – der den anderen braucht. Dadurch wird die Selbstachtung zersetzt. So etwas ist genau wie Lepra. Es frißt einen auf. Nicht lange, und man ist moralisch zum Krüppel geworden. Joan hat eine ganze Zeit lang durchgehalten. Dann fing sie an, nach Abhilfe zu suchen.«
Seine Stimme und die Informationen, die er ihr damit vermittelte, flößten Linden Beruhigung ein. Während Covenant auf- und niederstapfte, fiel ihr mit der Zeit die Art und Weise auf, wie er sich verhielt, die Vorsichtigkeit und Eigentümlichkeit all seiner Bewegungen. An dem Kaffeetisch ging er vorbei, als verkörpere er für ihn eine Gefahr. Und wiederholt begutachteten seine Augen die eigene Gestalt, betrachteten der Reihe nach jede Hand, jeden Arm, die Beine, seinen Brustkorb, als rechne er damit, sich irgendwo, irgendwie unbemerkt verletzt zu haben.
Linden hatte über dergleichen in der Fachliteratur gelesen. Diese Selbstüberwachung hieß VBG – Visuelle Beobachtung der Gliedmaßen. Wie die Umsicht, mit der er sich bewegte, war sie ein Bestandteil der Disziplin, deren er bedurfte, um seine Krankheit in Schach zu halten. Wegen der Schäden, welche die Lepra seinen Nerven zugefügt hatte, bestand die größte einzelne Gefahr für seine Gesundheit in der Möglichkeit, sich zu stoßen, zu verbrennen, aufzukratzen, zu schneiden oder anzuschrammen, ohne es zu merken. Dann würde die Infektion, weil keine sofortige Behandlung erfolgte, von neuem zum Ausbruch kommen. Deshalb bewegte sich Covenant mit aller Vorsicht, deren er fähig war, und deswegen war sein Haus lediglich mit einem Minimum an Mobiliar ausgestattet, so daß das Risiko von Ecken, Kanten und Hindernissen sowie etwaigen Unfällen möglichst gering blieb. Und er hielt seinen Körper unter regelmäßiger Beobachtung, achtete ständig auf Anzeichen akuter Gefährdung.
Ihm bei seiner sachlichen, nachgerade fachkundigen Tätigkeit zuzuschauen, half Linden dabei, ihr Gefühl für das eigene Ich wiederzugewinnen. Allmählich empfand sie es als erträglicher, seinen eher indirekten Erläuterungen ohne Ungeduld zu lauschen. Er hatte keine Pause eingelegt. »Zuerst versuchte sie's mit der Psychologie«, berichtete er. »Sie hätte am liebsten geglaubt, die Schwierigkeiten bestünden nur in ihrer Seele, und man könne die Seele heilen wie einen gebrochenen Arm. Sie hat dann im Laufe der Zeit alle möglichen psychologischen Richtungen mitgemacht, ähnlich wie andere Leute es mit Autos halten, die jedes Jahr einen neuen, anderen Wagen kaufen. Als wäre ihr Problem wirklich geistiger statt spiritueller Natur. Ihre Eltern sahen in all dem nicht den mindesten Sinn, aber sie versuchten, tolerant zu sein, genauso wie sie sich bemühten, Roger ein anständiges Zuhause zu bieten. Folglich dachten sie, es sei nun wieder alles mit Joan in Ordnung, als sie mit dem Psychokram aufhörte und mit Frömmelei anfing. Sie sind sowieso seit jeher der Auffassung, daß die Religion für alles die Lösung ist. Na schön, für die meisten Menschen genügt sie anscheinend tatsächlich, aber Joan konnte sie nun einmal nicht geben, was sie brauchte. So wäre es schlichtweg zu einfach gewesen. Es wurde fortwährend schlimmer mit ihr. Vor einem Jahr verkam sie dann zur Fanatikerin.
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