Das verwundete Land - Covenant 04
versengt worden. Auf dem Grunde der Mulde brannte ein Feuer. Seine Flammen loderten empor wie Lust, flackerten wie Wahnsinn; aber es erzeugte kein Geräusch. Bei diesem Anblick meinte Linden unwillkürlich, sie sei plötzlich taub geworden. Sie hielt es für unmöglich, daß ein solches Feuer völlig lautlos brennen konnte.
Nahe beim Feuer erstreckte sich eine unregelmäßige Fläche natürlichen Felsgesteins mit einem Durchmesser von etwa drei Meter. In Rot war ein großes Dreieck darauf gemalt worden – in einem Farbton, so dunkelrot wie frisches Blut. Innerhalb des Dreiecks lag auf dem Rücken Joan. Sie rührte sich nicht, war anscheinend bewußtlos; nur das langsame Heben und Senken ihres Brustkorbs unter dem Nachthemd zeigte an, daß sie lebte.
Menschen standen um sie gedrängt, zwanzig oder dreißig Personen. Männer, Frauen, Kinder – alle in Bekleidung aus Sackleinen, alle gesprenkelt mit Grau, als hätten sie sich in Asche regelrecht gewälzt. Sie waren abgehärmt wie Ikonen des Hungers. Sie blickten aus Augen, die dermaßen leblos wirkten, als sei ihnen hinter den Augäpfeln der Geist gründlich ausgetrieben worden; aus Augen, die man selbst jeden Rests von Willen oder Beseeltheit beraubt hatte. Sogar die Kinder standen nur herum, als wären sie bloß Puppen, und ließen keinen Ton vernehmen.
Ihre Gesichter waren einer Stelle zur Linken Lindens zugewandt. Thomas Covenant entgegen.
Covenant war auf halber Höhe des Abhangs stehengeblieben, beobachtete über die Kahlheit der Mulde hinweg das Feuer. Seine Schultern glichen beinahe einem Buckel, die Hände waren an seinen Seiten zu Fäusten geballt, und den Kopf hatte er kämpferisch nach vorn gereckt. Seine Brust wogte, als wäre sie übervoll mit Anschuldigungen.
Niemand regte sich, sagte etwas; niemand zuckte auch nur mit den Wimpern. Die Luft war mit Schweigen geladen wie mit konzentrierter Gewalttätigkeit.
»Ich bin da«, knirschte Covenant auf einmal durch die Zähne. Aufgrund der Eingeschnürtheit seiner Kehle klang jedes Wort wie eine selbstzugefügte Wunde. »Laßt sie frei.«
Bewegung ließ Linden ihre Aufmerksamkeit ruckartig wieder dem Grunde der Mulde widmen. Ein Mann, der etwas kräftiger aussah als die restlichen Anwesenden, veränderte seinen Standort, bezog an der Felsenfläche am spitzen Ende des Dreiecks Aufstellung, über Joans Kopf. Er hob beide Arme, enthüllte dabei einen langen, krummen Dolch in seiner rechten Faust. Mit schriller Stimme, ganz wie jemand, der sich am Rand der Ekstase befindet, fing er an zu schreien. »Es ist an der Zeit! Wir sind der Wille des Herrn über Leben und Tod! Dies ist die Stunde, da wir unseren Lohn empfangen, die Stunde der Läuterung und des Blutes! Laßt uns den Weg für die Ankunft des Meisters bereiten!« Die Nacht schien seine Stimme direkt aus der Luft zu saugen, hinterließ statt dessen eine Stille, die so scharf war wie ein Einschnitt. Einen Moment lang geschah überhaupt nichts. Covenant tat einen Schritt abwärts, verharrte jedoch urplötzlich wieder.
Eine Frau beim Feuer schlurfte nach vorn. Fast entfuhr Linden ein lautes Keuchen, als sie in ihr jene Person erkannte, die mit ihren Kindern auf den Stufen des Gerichtsgebäudes gestanden und die Bürger zur Reuigkeit ermahnt hatte. Die drei Kinder hinter sich, näherte sie sich der Glut. Sie verneigte sich davor wie eine Tote. Dann streckte sie, ohne daß ihr irgendeine Anteilnahme anzumerken gewesen wäre, ihre rechte Hand in die Flammen. Ein Schrei der Pein zerriß die Nacht. Die Frau zuckte vom Feuer zurück und stürzte, vom Schmerz überwältigt, auf den kahlen Untergrund. Wie Zuckungen der Begierde durchwallte ein rötliches Wabern die Flammen. Es hatte den Anschein, als lodere das Feuer, genährt durch den Schmerz der Frau, noch höher an den Himmel.
Lindens Muskeln spannten sich zum Aufspringen. Sie wollte ihr Entsetzen herausschreien, diesem Greuel Einhalt gebieten. Doch ihre Glieder waren wie erstarrt. Bilder der Verzweiflung oder des Bösen bannten sie dort, wo sie auf der Erde kauerte. Diese Menschen waren allesamt wie Joan.
Schließlich erhob sich die Frau, stand so stumpfsinnig wie zuvor am Feuer, als wären die Nerven ihrer verbrannten Hand zertrennt worden. Ihr Blick kehrte zurück zu Covenant wie eine wiederholte Forderung, setzte ihn unter den Druck ihres Anspruchs. An ihrer Stelle trat das älteste ihrer Kinder ans Feuer. Nein! wollte Linden schreien, versuchte das Schweigen vergeblich zu brechen. Der Junge verbeugte
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