Das verwunschene Haus
Monaten verfolgt hatte, klingt recht beunruhigend, doch das hindert Tessier nicht daran, alle übrigen Möglichkeiten auszuschöpfen. Falls es im Leben von Madame Noel einen anderen Mann gäbe, so wäre das in einem so kleinen Ort wie Vieilles-Maisons nicht verborgen geblieben.
Die Dorfbewohner äußern sich jedoch einhellig zu deren Gunsten: »Die arme Madame Noel! Sie hatte sich wirklich nie etwas vorzuwerfen, das können Sie mir glauben! Sie arbeitet hart in der Fabrik von Fontainebleau. Natürlich sind manchmal Kollegen ihres Mannes zu ihnen nach Hause gekommen, aber immer nur, wenn Louis da war. In der Hinsicht werden Sie bestimmt nichts finden, Herr Kommissar!« In der Tat beginnt Kommissar Tessier, sich dieser Ansicht anzuschließen. Und das ist ihm keineswegs recht. Die Zeiten sind unruhig geworden. Man spricht von undurchsichtigen Geheimorganisationen, von politischen Verschwörungen aus den Kreisen der Faschisten. Das, was zunächst wie ein gewöhnliches Verbrechen aus Leidenschaft aussah, könnte in Wirklichkeit eine Angelegenheit von ganz anderem Kaliber sein und wäre damit sehr viel delikater zu handhaben...
Der Beamte beginnt daraufhin, auch auf diesem Gebiet zu ermitteln. Nach drei Wochen ist er jedoch nach wie vor über Hypothesen nicht hinausgekommen.
Da erhält er den Bericht von einem seiner Mitarbeiter, den er beauftragt hatte, Françoise Noel zu beschatten. Dieser Bericht ist äußerst aufschlußreich und bringt ihn sofort wieder auf den Boden sehr handfester Tatsachen zurück.
»Ich beschattete Madame Noel, als sie die Fabrik verließ. Sie wurde draußen von einem anderen Arbeiter erwartet, einem gewissen André Aimond. Sie gingen zusammen fort und plauderten miteinander. Nach einer Viertelstunde trennten sich ihre Wege wieder. Das Ganze machte den Eindruck, als ob zwischen den beiden eine ziemlich enge Beziehung bestehe.«
Der Kommissar ist durch diese Information einigermaßen schockiert. Er hatte Françoise Noels Privatleben gründlich erforscht, doch ausschließlich in Vieilles-Maisons. Womöglich hatte sie einen Geliebten in Fontainebleau, wo sie arbeitet? Tessier hatte auch der Fabrik einen Besuch abgestattet und dem Direktor bezüglich der Witwe des Opfers einige Fragen gestellt. Dieser hatte ihm allerdings nur die besten Auskünfte gegeben: Sie sei seit zwölf Jahren bei ihm beschäftigt und habe nie Anlaß zu Klagen gegeben. Aber man kann eine ausgezeichnete Arbeitskraft sein und nebenher ebenso eine Liebschaft haben, nicht wahr?
Der Beamte beschließt, sofort zu handeln und zitiert besagten André Aimond in sein Büro. Es handelt sich um einen jungen Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Er ist hellblond und trägt einen kleinen Lippenbart. Irgendwie wirkt er wie ein Junge, der nicht richtig gewachsen ist.
Auch ohne geschulten psychologischen Blick sieht man sofort, daß er sehr befangen ist und sich äußerst unbehaglich fühlt. Der Kommissar beabsichtigt daher, sich diese Schwäche seines Gegenübers zunutze zu machen.
»Sie plaudern des öfteren mit Madame Noel, wenn sie aus der Fabrik kommt, nicht wahr?«
»Nun, wissen Sie, das ist erst so, seitdem ihr dieses Unglück widerfahren ist, Sie verstehen...«
»Sie mögen sie wohl gern, die Madame Noel?«
Der junge Mann errötet und wird etwas nervös.
»Das ist doch nichts Böses, oder?«
»Natürlich nicht. Und es ist ebensowenig etwas Böses, ihr Geliebter zu sein. Das ist noch kein Verbrechen.«
André Aimond reagiert jetzt sehr heftig, was in einem seltsamen Kontrast zu seiner vorhergehenden Schüchternheit steht. »Sie haben kein Recht, so etwas zu behaupten! Das ist eine Lüge!«
Der Kommissar schweigt einen Moment lang. Dieser Ausbruch des jungen Mannes spricht Bände. Es hatte eine Weile gedauert, bis er begriff, aber jetzt glaubt er, die Lösung gefunden zu haben.
»Selbstverständlich sind Sie nicht ihr Liebhaber, da sie eine Bedingung daran geknüpft hatte. Soll ich Ihnen sagen, was für eine Bedingung das war?«
Tessier schweigt abermals. André Aimond hat den Kopf zwischen die Schultern gezogen und betrachtet seine Schuhspitzen. Er sagt ebenfalls nichts. Nachdem das Schweigen immer lastender geworden ist, erklärt der Polizeibeamte langsam und überdeutlich: »Die Bedingung bestand darin, daß Sie ihren Ehemann töten sollten.«
Ein unwillkürliches Schaudern durchzuckt den jungen Mann. Er versucht, sich zusammenzunehmen und dem Blick des Kommissars mit unbeteiligter Miene zu begegnen, doch es ist zu
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