Das verwunschene Haus
eintritt, ist ein junger Mann, der in jener Nacht den Jahrmarkt besucht hatte. Er weicht unwillkürlich zurück, als er den Stapel Photos erblickt.
»Soll ich die etwa alle anschauen?«
Mit schneidender Stimme erwidert Schulz: »Ja, und zwar mit der größten Sorgfalt. Vergessen Sie nicht, daß es sich um einen Mord handelt.«
Ohne zu antworten, macht sich der junge Mann ans Werk. Nach einer Dreiviertelstunde erklärt er mutlos: »Nein, ich kann nicht. Es gibt zu viele, die sich ähnlich sehen. Ich würde mich womöglich irren.«
Mit dem nächsten Zeugen geschieht dasselbe. Nach einer ermüdenden Prüfung des Stapels sagt er schließlich, er wisse es nicht. Und so geht es mit den übrigen weiter. Keiner von ihnen will sich festlegen. Beim elften Kandidaten kann der Assistent des Kommissars, der sich bis jetzt mühsam beherrscht hatte, nicht länger an sich halten: »Ich habe es Ihnen gleich gesagt! Vierhundert Photos, das ist einfach absurd! Es ist unmöglich, jemanden aus so vielen Photos zu identifizieren!«
Der Kommissar geht erst gar nicht darauf ein und läßt den nächsten Zeugen eintreten. Es ist der Kellner aus dem Café mit der gutentwickelten Beobachtungsgabe, dem die Narbe am rechten Daumen des Täters aufgefallen war.
Wie die anderen starrt er zunächst fassungslos auf den Stapel mit Photos, doch er macht keine Bemerkung und wendet sich sofort seiner Aufgabe zu. Nach zwei Minuten hält er inne und zieht eines der Photos heraus.
»Ich brauche die anderen nicht mehr anzusehen. Dieser hier ist es. Ich bin absolut sicher, daß ich mich nicht irre!« Kommissar Schulz nimmt das Bild in die Hand, während sein Mitarbeiter hinter seinem Rücken einen Fluch ausstößt. Das Photo zeigt nicht etwa Hans Brauer, sondern stammt aus dem Polizeiarchiv. Der Name des Mannes steht auf der Rückseite: Er heißt Werner Staufer und ist bereits sechsmal wegen bewaffneten Überfalls verurteilt worden. Er sieht Brauer tatsächlich sehr ähnlich...
Der Kommissar dankt dem Zeugen und wendet sich dann an seinen Inspektor: »Treiben Sie sofort diesen Staufer auf. Sorgen Sie dafür, daß er das Land nicht verlassen kann, sofern er es nicht schon getan hat!«
Der Assistent ist mehr als verdutzt.
»Aber schließlich handelt es sich nur um eine Ähnlichkeit, Kommissar, weiter nichts! Ohne die vierhundert Photos hätte der Zeuge beim Anblick von Brauer diesen sicherlich sofort erkannt!«
»Tun Sie, was ich sage! Wir müssen es genau überprüfen.«
Am nächsten Tag wird Werner Staufer verhaftet. Er befand sich in Berlin, der Stadt, die er seit langem bewohnt und in der er all seine Missetaten begangen hatte.
Man führt ihn sofort in das Büro des Kommissars. Die Ähnlichkeit mit Hans Brauer ist tatsächlich frappierend, zumindest, was seine äußere Erscheinung betrifft. Sein Gebahren ist jedoch vollkommen anders. in dem Maße wie Brauer lässig, ja sogar fast gleichgültig wirkte, scheint Staufer sich unbehaglich zu fühlen. Er hat den Kopf gesenkt und blickt nur gelegentlich unstet um sich.
Kommissar Schulz sagt nichts. Er macht seinem Mitarbeiter ein Zeichen, und als dieser in dieselbe Richtung schaut wie sein Chef, wird er bleich. Werner Staufer, dessen Hände leicht zittern, trägt am rechten Daumen eine breite Narbe!
Mit sanfter Stimme meint Schulz zu seinem Assistenten: »Sie sehen, daß Pedanterie einem manchmal hilft, schwerwiegende Irrtümer zu vermeiden.«
Dann wendet er sich Staufer zu: »Und jetzt werden Sie mir erzählen, was Sie in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni getan haben...«
Ein unglaubliches Motiv
Im Bahnhofsrestaurant von Fontainebleau nimmt der Bahnangestellte Louis Noel noch eine Erfrischung zu sich, bevor er sich auf den Heimweg begibt. Es ist acht Uhr abends, und wir schreiben den 27. Januar 1936.
Der zweiunddreißigjährige Louis, dem die Instandhaltung der Gleise obliegt, verkörpert geradezu den Inbegriff des unauffälligen Durchschnittsmenschen: Er ist ein ruhiger Familienvater von anständigem Charakter, stets ausgeglichener Stimmung und dabei fast ein wenig zu bescheiden und zurückhaltend.
Um so erstaunter ist daher sein Kollege Sylvain Prolier, als dieser sich an seinen Tisch setzt und er seine ungewöhnlich sorgenvolle Miene bemerkt.
»Was ist los, Louis? Du hast doch etwas, stimmt's? Ist eines deiner Kinder krank?«
Louis Noel schüttelt verneinend den Kopf und erwidert zunächst nichts. Erst nach einem kurzen Moment des Zögerns antwortet er: »Ich habe Angst, Sylvain. Ich
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