Das verwunschene Tal
Dhorkan in den Köcher und wählte einen Pfeil mit besonders scharf geschliffener Spitze.
»Die Stele wird wieder aufgerichtet! Wir werden den Idioten fangen und bestrafen. Und keiner von euch wird es wagen, sich noch einmal gegen mich und die Magie zu stellen!«
Dhorkan zielte, ließ die Sehne los und verfolgte den blitzschnellen Flug des Geschosses. Der Pfeil fauchte eine Elle von Feithearns Brust entfernt vorbei und bohrte sich schmetternd in die Schulter des Caer, der direkt neben dem Priester stand.
»Wir müssen weg. Sie werden die Umgebung absuchen!« sagte Dhorkan und legte seine Hand auf Elivaras Schulter.
»Du hast recht.«
Sie löschten die Kerze, verließen das Haus und liefen, so schnell sie konnten, vor der Menge der zurückflutenden Nyrngorer durch die Gassen. Sie erreichten die Schenke, in der nur eine alte Dienerin wartete. Wein und kaltes Essen waren bereitgestellt, denn auch der Wirt war beim Schloss gewesen.
»Sceythe«, sagte Elivara, dies war der Name des Mitverschwörers, »hat es richtig gemacht. Der wichtigste Treffpunkt und das sicherste Versteck sind hier, wo tagtäglich die Caer- Hauptleute zechen.«
»Noch sind wir sicher. Aber nach dieser Nacht«, meinte Dhorkan und war ebenso wie Elivara nur mit Schwierigkeiten in der Lage, das zu verarbeiten, was sie eben erlebt hatten, »hat es niemand in der Stadt leicht. Abgesehen davon, dass der Winter fortschreitet und nicht nur die Nahrungsmittel knapp werden.«
»Hier ist heißer Wein mit Gewürzen«, sagte die zahnlose Alte und stellte einen Krug mit zwei Bechern vor Elivara und Dhorkan.
»Danke! Ausgerechnet Hester! Ich kann es noch immer nicht glauben.«
Betrat jemand die Gaststube der Taverne, musste er glauben, ein Caer zechte mit einer alten Frau. Dhorkan fühlte, wie der heiße, süße Wein, vom Magen ausgehend, seinen Körper binnen weniger Atemzüge wohlig erwärmte.
»Eines Tages werden wir alles begreifen. Was wir sehen, sind nur einzelne Zeichen, Königin«, meinte der junge Mann. Jetzt erst war er sicher.
Zweifel hatten ihn in den vergangenen Tagen geplagt. Er hatte versucht, das Überleben der Flüchtlinge zu organisieren, und dann, von einem Augenblick zum anderen, entschloss er sich, in die Stadt zurückzukehren. Zumindest sich der Stadt zu nähern, um etwas über ihr Schicksal zu erfahren. Den Wirt dieser Taverne kannte er seit zehn Jahren. Zuletzt hatte er ihn gesehen, wie er Mauerbrocken auf die Caer geschleudert hatte.
Der Trunkene Seemann & Mastbruch war vor dem Fall der Stadt Treffpunkt der wildesten Kämpfer und der hübschesten Mädchen gewesen. Und jetzt war er der einzige Ort, an den sich die Rebellen zurückziehen konnten. Sceythe würde eher sterben, als Verrat zu begehen. Das war so sicher wie die Tatsache, dass der Mond am Himmel stand.
Dhorkan ließ sich nachschenken und fuhr fort: »Feithearn hat vor den Augen der ganzen Stadt bewiesen, dass sein Zauber nicht allmächtig ist. Tiere haben seine Wachen fast umgebracht. Und ich sage dir, Königin Elivara mit den bernsteinfarbenen Augen, dass wir noch ganz andere Dinge erleben werden. Und ich sage dir noch etwas! Ich träume oft, und inzwischen glaube ich auch an meine Träume. Vieles von dem, was wir erleben, hat mit Mythor zu tun, dem Sohn des Kometen!«
Sie blickte ihm lange ins Gesicht. Dann seufzte sie und sagte langsam: »Ich glaube, du hast recht. Nyrngor aber wird niemals mehr das werden, was es war.«
»Was zerstört ist, kann aufgebaut werden. Eines Tages werden die Caer nicht mehr die Herrscher sein. Beide sind wir jung. Wir werden es erleben.«
Die Ränder der Becher gaben ein dumpfes Geräusch, als Dhorkan und Elivara auf diese Hoffnung anstießen. Dann flog die Tür auf, und der Wirt kam herein.
Dhorkan hob beide Hände und sagte, noch ehe der Freund seine Neuigkeit heraussprudeln konnte: »Wir haben alles gesehen! Und auch wir haben keine Erklärungen. Wir sind nur müde und schmutzig.«
Irgend etwas hatte sich in der halb zerstörten, besetzten und geplünderten Stadt verändert. Die nächste Zeit würde zeigen, ob es eine Änderung zum Guten oder zum Schlechten war.
Der Morgen versprach einen herrlichen, wenn auch kalten Tag.
Die Sonne strahlte herunter. Ihre Wärme löste den Raureif auf, der wie weißer Zierrat auf Gräsern, Ästen und Stämmen lag. Am strahlend blauen Himmel zeigte sich nicht ein Wölkchen. Nur weit in der Ferne, im Norden, zogen sich dünne Rauchfäden in die unbewegte Luft und zerfaserten erst in großer
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