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Das vielfarbene Land

Das vielfarbene Land

Titel: Das vielfarbene Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian May
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schürzte die Lippen. Ihre feingeschwungene Adlernase war stolz erhoben. Ihre kleinen schwarzen Augen glitzerten von unvergossenen Tränen. »Tatsächlich werde ich ihn in Kürze abbauen lassen müssen, damit die wertvolleren Bestandteile verkauft werden können.«
    »Das dürfen Sie nicht! Das dürfen Sie nicht!« rief Richter und umklammerte die Oberkante des Törchens.
    Madame wich einen Schritt zurück und betrachtete ihn erstaunt. Er hatte ein Mondgesicht mit hellen, vorquellenden Augen und dicken rötlichen Brauen, die er nun bestürzt hochzog. Er war teuer gekleidet, wie für eine anstrengende Wanderung, und trug einen großen Rucksack. Daran festgezurrt waren ein Geigenkasten, ein lebensgefährlich aussehendes Dural-Katapult und ein Golf-Regenschirm. Die unerschütterliche Dackelhündin bewachte ein großes Paket mit Büchern, die aus papierenen Seiten bestanden. Es war sorgfältig in Folie eingewickelt und mit Riemen und einem Tragegriff versehen.
    Richter brachte seine Emotionen wieder unter Kontrolle. »Verzeihen Sie mir, Madame. Aber Sie dürfen diese so wundervolle Erfindung Ihres verstorbenen Gatten nicht zerstören. Das wäre ein Sakrileg.«
    »Trotzdem, da ist die Erbschaftssteuer«, erwiderte Madame. »Sie sprachen von einem Geschäft, Monsieur. Aber Sie müssen wissen, daß bereits viele Journalisten über das Werk meines Mannes geschrieben haben ...«
    »Ich«, erklärte Richter, und ein Ausdruck des Abscheus huschte über sein Gesicht, »bin kein Journalist. Ich bin Dichter. und ich hoffe, Sie werden meinen Vorschlag wohlwollend in Erwägung ziehen.« Er öffnete den Reißverschluß eines Seitenfachs an seinem Rucksack und entnahm ihm eine lederne Kartentasche, aus der er ein kleines blaues Rechteck zog. Er hielt es Madame hin. »Der Beweis meiner Kreditwürdigkeit.«
    Die blaue Karte war eine Sichttratte auf die Bank von Lyon und berechtigte den Inhaber, einen außerordentlich hohen Geldbetrag abzuheben.
    Madame Guderian öffnete das Törchen. »Bitte, treten Sie ein, Monsieur Richter. Ich vertraue darauf, daß der kleine Hund gute Manieren hat.«
    Richter hob sein Bücherpaket auf und lächelte dünn. »Schatzi ist zivilisierter als die meisten Menschen.«
    Sie setzten sich auf eine Steinbank unter einen bienendurchsummten, mit Soleil d'or bewachsenen Bogen, und Richter erklärte der Witwe, warum er gekommen war. Er hatte auf der Party eines Verlegers in Frankfurt von Guderians Zeitportal gehört und sich noch am gleichen Abend entschlossen, alles, was er besaß, zu verkaufen und nach Lyon zu eilen.
    »Es ist sehr einfach, Madame. Ich möchte durch dieses Zeitportal gehen und ständig in der prähistorischen Einfachheit des Pliozän leben. Das friedliche Königreich! Locus amoenus! Der Wald von Arden! Das Heiligtum der Unschuld! Das stille Land, das noch nie von menschlichen Tränen benetzt wurde!« Er machte eine Pause und klopfte auf die blaue Karte, die sie noch in der Hand hielt. »und ich bin bereit, für meine Passage sehr gut zu bezahlen.«
    Ein Verrückter! Madame befingerte die Rosenschere tief in ihrer Tasche. »Das Zeitportal«, erläuterte sie vorsichtig, »öffnet sich nur in eine Richtung. Es gibt keine Wiederkehr. und wir haben keine detaillierten Kenntnisse über das, was auf der anderen Seite im Land des Pliozän liegen mag. Es ist nie gelungen, Kameras oder irgendwelche andere Aufzeichnungsgeräte unbeschadet zurückzubringen.«
    »Die Fauna der Epoche ist wohlbekannt, Madame, und das Klima ebenso. Ein umsichtiger Mensch wird nichts zu fürchten haben. und Sie, gnädige Frau, dürfen sich keine Gewissensbisse machen, wenn Sie mir die Benutzung des Portals gestatten. Ich bin selbstgenügsam und durchaus imstande, in einer Wildnis auf mich aufzupassen. Ich habe meine Ausrüstung mit Sorgfalt zusammengestellt, und als Gesellschaft habe ich meine treue Schatzi. Zögern Sie nicht länger, ich bitte Sie sehr! Lassen Sie mich noch heute abend durchgehen. Jetzt!«
    Tatsächlich ein Verrückter, aber vielleicht einer, den die Vorsehung geschickt hatte.
    Sie machte noch eine Zeitlang Einwände, während sich der Himmel zu Indigo verdunkelte und die Nachtigallen zu singen begannen. Richter hatte auf alle ihre Argumente eine Antwort. Er hatte keine Familie, die ihn vermissen würde. Er hatte niemandem von seinen Absichten erzählt, deshalb würde man bei Madame keine Nachforschungen anstellen. Niemand hatte ihn auf der einsamen Straße vom Dorf hier herauf gesehen. Für ihn sei, was Madame

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