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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
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Junge mit einer Kippa hatte seine ganze Familie mitgebracht. Wirklich die gesamte Familie. Alle Omas und Opas. Alle Tanten. Alle Onkel. Alle und jeden. Sie weinten. Klatschten aber auch. Alle.
    Ich hatte überlegt, meine Freundin Yael zu fragen, ob sie mitkommen würde, hatte es aber nicht getan, weil Yael im Grunde nicht wirklich meine Freundin, sondern eher die Einzige war, die man noch nicht eingezogen hatte. Weil ich kein Mädchen war, das Freundinnen hatte. Ich war die Anführerin einer Herde bescheuerter Mädchen gewesen, die mir fast die ganze Schulzeit nachgelaufen waren, aber mir hatte nie eingeleuchtet, wozu Freundinnen gut sein sollten, und ich fand es eigentlich gut, dass an diesem Tag nur meine Mutter und ich da waren. Ich fühlte mich in dem Verdacht bestätigt, dass Freundinnen letztlich überschätzt wurden.
    Als wir auf dem Parkplatz standen und darauf warteten, dass mein Name aufgerufen wurde, summte meine Mutter die ganze Zeit ein Lied, das ich noch nie gehört hatte.
    »Hör auf damit!«, schrie ich sie an, und meine Mutter musste weinen. Sie war unruhig, weil ich ihr letztes und ihr schwächstes Kind war.
    Kurz bevor ich aufgerufen wurde einzusteigen, hörte meine Mutter auf zu weinen. »Alles wird gut«, sagte sie. »Alle machen das. Das werden die besten Jahre deines Lebens«, flüsterte sie und hielt mein Gesicht in beiden Händen.
    »Mir geht’s gut. Ich komme bestimmt schon bald übers Wochenende nach Hause«, sagte ich.
    »Ja«, sagte meine Mutter. Sie sagte, »Ja«, ließ mich aber nicht los.
    »Mama, ich brauche mein Gesicht«, sagte ich. »Ich brauche mein Gesicht.«

    Und in dieser Nacht, in der Nacht, nachdem Fadi ohne Pitas zum Checkpoint gekommen war, besuchte er mich ungefragt im Traum.
    »Ich gehe nicht«, sagte Fadi. »Verlang nicht von mir, dass ich wieder diese Arbeit machen muss.« Er lag schluchzend auf dem Küchenboden.
    »Du bist doch kein kleines Mädchen«, sagte Nur. »Hör auf zu heulen. Erwachsene Männer heulen nicht.«
    Fadi stand auf. Er sah zu, wie Nur Zwiebeln für den Sonntagseintopf hackte. »Ich gehe nicht«, sagte er. Seine Stimme überschlug sich fast. »Ich will mehr vom Leben als das hier. Avi, der Bauunternehmer, hat erzählt, dass er seinem Sohn diese Woche ein neues Fahrrad gekauft hat. Der Kleine hat ein Fahrrad. Ich bin viermal so alt und hatte noch nie ein Fahrrad. Das ist ungerecht.«
    »Für wen hältst du dich eigentlich? Für ein verwöhntes israelisches Kind vielleicht? Du bist ein Palästinenser, und das hier ist dein Leben. Das haben wir uns nicht ausgesucht«, sagte Nur und wischte sich mit dem Geschirrtuch den Hals ab, was Fadi ekelte. Er hatte Falten an ihrem Hals bemerkt, hängende, überflüssige Haut, die noch nicht da gewesen war, als er zugestimmt hatte, sie zu heiraten, und das ekelte ihn nur noch mehr.
    »Was heißt denn ›wir‹?«, fragte er. »Es geht hier nur um mich. Und ich weiß, wer ich bin. Und ich gehe nicht.«
    »Und ob du gehst«, sagte Nur, weise, alt und Zwiebeln hackend.
    Und als sie schmunzelte, merkte er, wie er die Hand zur Faust ballte und ordentlich ausholte – er spürte, wie seine Knöchel die Messerklinge streiften und es tropfte, als die Faust in der Luft schwebte. Nur richtete das Messer auf ihn, aber das konnte Fadi nicht aufhalten, und er schlug zu, nur einmal, einen einzigen Kinnhaken.

    »Ich kann keinen meinen Schwanz lutschen lassen«, sagte ich am nächsten Morgen zu Yaniv. Die Sonne war noch nicht zu sehen, aber ich war nicht so müde wie sonst. Ich hatte beim Aufwachen genug Kraft, um mich im angelaufenen Spiegel des Waschraum-Containers anzusehen. Ich hatte mich monatelang nicht mehr angesehen. Ich hatte mich daran gewöhnt, den Blick auf die Füße zu richten, wenn ich mir das Gesicht wusch.
    »Was?«, fragte Yaniv. Er hatte den Arm um eines der äthiopischen Mädchen gelegt, das auch für die Autokontrolle eingeteilt war. Sie schütteten sich ein Zuckerpäckchen nach dem anderen in den Rachen und sangen Mizrahi-Musik in den wehrlosen Sand.
    »Ich hab keinen Schwanz, also kann auch keiner dran lutschen«, sagte ich. Ich war so was von nicht müde, dass ich beschloss, ihn auf den Arm zu nehmen. Ich wusste, das würde ihn kirre machen. Ich fand es lustig, dass er wirklich glaubte, dass es irgendwas geben sollte, das er verstand und ich nicht.
    »Das sagt man nur so«, sagte Yaniv. »Das ist nur, also, nicht ernst gemeint. Es heißt, du zeigst, dass es dir egal ist, weißt du, was ich

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