Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
Wörter gab.
Toms erster Besuch in der Allenby Straße 52 war mit Oleg und seinen zwei Cousins gewesen. Das war vor drei Monaten, an Toms neunzehntem Geburtstag. Oleg und er hatten beide das Wochenende frei, was so gut wie nie vorkam, weil sie sich sonst mit dem Telefondienst abwechselten, und Gali würde noch mindestens einen Monat lang nicht frei haben. Tom war in der Woche total fertig und in sich versunken gewesen, sodass Oleg ihn manchmal anbrüllen musste, damit er merkte, dass seine Schicht vorbei war. Oleg versuchte ihn aufzumuntern, indem er Tom eine ganze Flasche billigen russischen Wodka schenkte, aber das half auch nichts.
Tom hatte sogar den Verdacht, Oleg habe getrickst und Toms Schichten vertauscht, damit er am Wochenende mit ihm weggehen würde, aber Tom war erst nicht in Stimmung.
»Alter, mir ist dieses Wochenende einfach nicht nach Party«, sagte Tom, aber so einfach ließ sich ein Oleg nicht abwimmeln.
»Bei uns in Russland sagt man ›Keine Muschi ist es wert, wie eine Muschi zu heulen‹. Kapierst du das?«, sagte Oleg.
Tom war nicht überzeugt. »Hast du mich nicht mal angeblafft, weil du aus Weißrussland kommst und nicht aus Russland?«, fragte er. Dann lief er die Straße draußen vorm Stützpunkt ab und hoffte, ein Taxi zu erwischen, das ihn sofort nach Hause brachte.
»Scheißegal, Mann. Ich sag dir, wo ich mit dir hin will, Alter, da erwartet dich eine Nacht, die du so bald nicht vergisst«, sagte Oleg. Er schenkte Tom seinen Dackelblick und presste flehend die groben Hände zusammen.
Das Taxi ließ sie im Boutiquenviertel raus, genau vor der Allenby 52. Von außen sah das Gebäude wie ein ganz normales Klamottengeschäft aus, aber als sie an der Metalltür klopften, machte ein junger dürrer Russe in Trainingshosen auf.
»Willst du Orangen?«, fragte er mit breitem Akzent. »Wir haben einen Baum direkt hinterm Laden. Ob ihr’s glaubt oder nicht, in diesem Land gibt es gute Orangen. Die gehen aufs Haus.«
Im Raum standen zwei Sofas und ein riesiger Esstisch, aber nur zwei weiße Plastikstühle. An der weißen Wand hing ein gelbes Plakat, auf dem mit schwarzem Marker die Preise geschrieben standen. »Alles inbegreift« war falsch geschrieben.
»Oleg, wo sind wir hier? Das kann doch nicht dein Ernst sein. Ein Puff?«, flüsterte Tom, aber der Russe mit den Orangen verstand ihn trotzdem und lachte.
»Pass auf, was du sagst, klar?«, meinte Orange.
Aber eigentlich war Tom überrascht, dass er nicht schockiert war. Er war aufgeregt. Sahen die Mädchen geil aus? Konnte er sich alles wünschen? Seit dem einen Tag in der zehnten Klasse, damals im Sportunterricht, hatte er immer nur Gali geküsst.
Ehe er sich versah, hatten Oleg und seine Cousins schon bezahlt und eine mittelreife Frau führte sie nach oben.
»Was kriegst du?«, fragte Mister Orange.
»Das Billigste«, sagte er schließlich. »Eigentlich bin ich nicht … Verstehst du, ich mach so was sonst nicht.«
»Das ist dann ein Blowjob. Zweihundert Schekel. Wir können es als Massage von der Kreditkarte abbuchen.«
Der Flur oben sah genauso aus wie der im Studentenwohnheim von Toms Bruder. So weit Tom über die grüne Auslegware nach hinten sehen konnte, waren da überall Zimmer, aber die mittelreife Frau sagte, er solle in das zweite Zimmer rechts gehen. Er roch Knoblauch, als sie sich leicht zu ihm rüberbeugte, um es ihm zu zeigen.
Das Zimmer war klein, und das einzige Möbelstück war ein weißes französisches Bett mit einem orientalisch gemusterten Tuch darüber. Die Wände waren weiß und rochen frisch gestrichen. Sie waren kahl.
Das Mädchen saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Bett. Obwohl ihre Haare billig blondiert waren und ein brauner Ansatz zu sehen war, und obwohl ihr Lippenstift grellpink und ihr Lidschatten lila war, sah sie nicht viel älter aus als siebzehn. Sie war dünn. Die Trainingshosen schlackerten ihr um die Beine und der Träger ihres Hemdchens war fast ganz bis zum knochigen Ellenbogen runtergerutscht. Ihre Haut war so weiß, dass es vor dem Hintergrund der Wand so aussah, als wären Teile ihres Körpers nicht vorhanden.
Als sie aufschaute, sah Tom nichts als ihre Augen. Sie waren so groß, so hervorstehend und blau, dass es aussah, als schwebten sie in der Luft.
Das Mädchen schaute wieder nach unten und stand auf, um das Licht auszumachen. Im Dunkeln fühlte Tom ihre kalte Hand, die nach seiner griff und ihn zum Bett führte. Bevor sie seinen Gürtel berühren konnte, stand
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