Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
auch Tomer auf dem Rücken, starrte auf die Zeitung und schaute dann zu ihr rüber. Er zerquetschte ihre Schulter mit seiner. »Du weinst ja«, sagte er. Er hatte sie noch nie weinen sehen. »Oder ist das noch das Reizgas? Dabei hast du doch noch zu mir gesagt, dass ich mir zweimal die Hände waschen soll, bevor ich mir ins Gesicht fasse«, sagte er.
»So blöd bin ich nicht«, sagte sie. »Ich werde in Tel Aviv BWL studieren, das ist alles.« Bisher hatte sie noch nie gesagt, wann sie gehen würde, und sie wusste nicht, ob er wusste, dass es schon bald war.
»Ja und?«.
»Meine Schulter. Du tust mir weh.«
Sie hatte gewusst, dass sie am nächsten Morgen wieder kommen würden, und so konnte sie sich aufs Lernen konzentrieren. Im Übungstest hatte sie nur vier Fehler, alle davon im Englischteil. Bei allen hatte sie gewusst, dass sie falsch lag, bevor sie nachgeschaut hatte, war aber allein nicht auf die richtige Antwort gekommen.
Sie hatte gewusst, dass sie zurückkommen würden, darum ging sie mit Tomer zum Checkpoint, als seine Schicht anfing. Sie hatte nicht gewusst, dass sie mit Laborbrillen und Mundschutz anrücken würden. Sie sahen aus wie verrückte Wissenschaftler, und sie fragte sich, wo in ihrer erbärmlichen Stadt in der Westbank sie diese Verkleidung herbekommen hatten. Der Junge trug eine billige Plastiksonnenbrille über der Laborbrille. Sie lächelte, als sie das sah, und da lächelte er zurück.
Aber als der Mann mit dem Guns N’ Roses T-Shirt schrie: »Zeit für Gummi!«, versteinerte ihr Gesicht. Sie gab ihm ein Zeichen mit dem Kinn. Sie ließ ihn näher ran als an den Vortagen.
»Nein«, sagte sie. »Ein Gummigeschoss könnte euch töten. Das geht zu weit.«
»Aber, aber –«, sagte der Mann. Dann merkte er, dass sein Ton unangebracht war. Ihm wurde klar, dass er hier kein Kunde war, sondern allen Grund hatte, sie nicht zu verärgern. »Aber das ist es ja eben. Über Gummigeschosse werden sie was schreiben. Über Gummi schreiben sie immer was.«
Lea schüttelte den Kopf.
»Das ist das Letzte, worum wir bitten, versprochen.«
Sie rührte sich nicht.
»Wir wollen nur das, und Sie können es uns geben. Ich meine –«, sagte er. »Überlegen Sie es sich.«
Sie überlegte und wusste, dass er sie schon überredet hatte, und dass man ihr das ansah. Der Mann trat von allein zurück und hob leicht die Hände, was heißen sollte, dass sie alle Zeit der Welt hätte.
»Der Junge darf nicht dabei sein, weil man für Gummigeschosse achtzehn sein muss«, sagte sie. Sie war nicht sicher, ob das eine Vorschrift war, dachte aber, dass es eine sein könnte.
Der Junge saß eine halbe Stunde lang am Straßenrand und wartete mit den Fingern im Mund, bis sie runzlig wurden. So lange brauchte sie, um die Anleitung zu lesen. Länger noch. Während sie las, stand Tomer über sie gebeugt.
In der Anleitung wurde davor gewarnt, dass Gummigeschosse Menschen töten könnten. Davon abgesehen schien alles andere an ihnen dafür entwickelt worden zu sein, das Leben eines Soldaten unterhaltsamer und komplizierter zu gestalten. Kurz fragte sie sich, wie viele Soldaten wohl kürzlich diese Anleitung gelesen hatten.
Die Romay war eine Metalltrommel, die man auf den Lauf eines ungeladenen Gewehrs schraubte. Dann drückte man von oben vier mit Gummi überzogene Stahlkugeln rein und verschoss sie mit einer einzigen Halbpatrone, mit der das Magazin geladen war. Wenn man weniger als vier Gummigeschosse auf einmal verschoss, drückte die Halbpatrone sie zu stark raus, und das hatte den Effekt von scharfer Munition. Die Geschosse hatten einen vertikalen Streueffekt von zehn Grad, und man musste darauf achten, dass man auf die Beine zielte, denn wenn man andere Körperteile traf, hatte das dieselbe Wirkung wie scharfe Munition. War das Ziel weiter als fünfzig Meter entfernt, war es außer Reichweite der Gummigeschosse. War es weniger als dreißig Meter entfernt, war es zu nah, weil die Gummigeschosse auch dann die Wirkung von scharfer Munition hatten.
Die Anleitung war so geschrieben, dass man dem Finger, der den Abzug drückte, die Schuld geben konnte, wenn das Gummigeschoss einen Menschen tötete. Es musste der Finger sein, der Schuld war, denn alle anderen Urheber wurden in der Anleitung ausgeschlossen. Sie fragte sich, wie das im Normalfall funktionieren sollte, wenn die Demonstration nicht aus drei kooperativen Individuen mit einem A4-Schild, sondern aus einer wirklich wütenden Meute bestand. Aber sie dachte nicht
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