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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
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ist.«
    »Ja.«
    »Das war Absicht. Vorsatz.«
    Lea drehte sich vom Olivenhain an ihrem Haus weg und sah mich zum ersten Mal seit Wochen wirklich an. Sie legte die Zigarette im Aschenbecher ab. Um ihren Garten herum wurde es Nacht, lila, orange, riesig. Der Schatten des amputierten Gartenzwergs wurde immer länger und die Windspiele klimperten.
    Lea blinzelte, das war ein Zeichen. Sie wollte, dass ich ihren abgefahrenen Gedanken laut aussprach, den, der noch heranwuchs, den ersten, den sie nach langer Zeit hatte.
    Und das machte ich natürlich.
    »In unserem Dorf scheint es einen Mörder zu geben«, sagte ich.
    Wir waren einundzwanzig. Wir hatten den Wehrdienst absolviert und ich war kurz davor, aus dem Dorf wegzugehen und einen Job am Flughafen anzufangen. Fast ein Jahr lang hatte ich im Haus meiner Eltern festgesessen und nichts gemacht, aber Leas zusätzliche Offizierszeit war erst seit ein paar Monaten vorbei. Ich hatte zu fast keinem mehr Kontakt, nur noch zu Lea und Avishag. Am Ende hatte ich nun nach all den Jahren wieder dieselben besten Freundinnen wie in der Grundschule. Nie sprach ich mit Hagar oder einem von den anderen Mädchen, mit denen ich gedient hatte. Avishag und ihre Mutter wohnten bei ihrer Großmutter in Jerusalem. Avishag arbeitete in einem Büro, wo sie Akten sortierte. Manchmal rief ich Emuna noch an, aber sie war schon an einem College in den USA. Lea wollte zur Uni gehen, machte sogar ein paar Aufnahmetests, merkte dann aber, dass sie gar nicht wusste, was sie sich von der Zukunft erhoffte, und sie wusste auch nicht, wie sie für die Zukunft lernen sollte. Ich wusste auch nicht, wie ich für die Zukunft lernen sollte, aber ich wollte, dass sie kam. Ich dachte darüber nach, mir einen Job zu suchen.
    Es ist Jahre her, dass Lea und ich Fantasiespiele gespielt haben. Aber es ist auch Wochen her, dass wir miteinander geredet haben und sie mir alles erzählt hat, was wahr war, sogar wahre Sachen, die nicht wahr waren.
    Der Olivenbaum war wirklich tot. Es war nur noch ein Strunk, ein kurzer Strunk. Die Äste waren einer nach dem anderen dunkel geworden und auf den Boden gefallen. Wir hatten nicht gesehen, wie das alles passiert war. Wir waren bei der Armee. Als wir zurückkamen, konnten wir schon nichts mehr tun.
    Wie jeden Tag nach dem Abendessen fing Millers Frau an herumzubrüllen. Wir konnten jedes Wort hören, weil es über den Olivenhain bis in Leas Hinterhof schallte. Eine Schublade wurde zugeknallt. Porzellan zerbrach.
    »Nicht so laut, ihr Penner«, schrie ich. Nachdem Lea verstummt war, hatte nun ich die Aufgabe, ihre Nachbarn anzuschreien, wenn sie laut wurden.
    »Ihr blöden Schicksen«, schrie Miller zurück.
    »Penner«, brüllte Lea. Obwohl mir, ohne dass ich es merkte, die Kinnlade runterklappte, wollte ich mir nicht anmerken lassen, dass ich begeistert darüber war, ihre Stimme wieder laut zu hören.
    »Ihr Affen«, schrie Miller. Er nannte uns Affen, weil unsere Großeltern nicht aus Europa kamen. Uns gefiel das aber. Mir zumindest. Früher hat uns die Vorstellung wirklich gefallen, dass wir Tiere wären.

    Einmal spielten wir Wölfe. Wir waren zwölf, und wir waren wütend, weil unsere Mütter nach der Bat-Mizwa zu uns gesagt hatten, dass wir jetzt Frauen wären. Darum bissen wir uns gegenseitig in die Knöchel. Die Leute aus dem Dorf sahen uns, wie wir auf allen vieren durch die Straßen und um die Bananenfelder zogen. Unsere Mütter sagten, wir sollten aufhören, aber wir bissen uns in ihren Hosen fest und ließen nicht los. Auf der Straße leckten wir dem Mädchen im Rollstuhl die Zehen, und sie lachte. Als wir in Millers Garten kamen, schrie er, »ihr blöden Schicksen«, und verjagte uns mit einer Schaufel, als wir ihm die Zähne zeigten. Jaulend erzählten wir uns gegenseitig Geschichten und verstanden sie, bis wir todmüde umfielen.
    Wir verrieten nie unsere richtigen Namen und unser richtiges Alter. Auch nicht, wenn man uns fragte. Telefonverkäufer, neue Lehrer, neue Kinder, die Süßigkeitenverkäufer auf dem Arabermarkt – sie alle wollten ein Stück von uns. Sie wollten nicht wirklich wissen, wie wir hießen; es war nur eine Strategie, damit wir glaubten, sie würden uns mögen. Damit wir mit ihnen redeten. Damit wir etwas bei ihnen kauften. Wir wollten, dass sie sich für uns interessierten, auch wenn es nicht stimmte. Früher war uns alles so wichtig. Wir wollten mit jedem reden. Wir lebten so weit weg von der Welt. Aber unsere Namen durften wir nicht aufgeben.

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