Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
sagte Shai. »Ganz ruhig.«
Er verband dem Mann die Augen mit einem Waffenreinigungstuch. Der Mann verschränkte von allein die Arme hinterm Rücken, und Shai legte ihm echte Metallhandschellen an, nicht die albernen schwarzen Plastikdinger, die die Unteroffiziere hatten. »Keine Angst«, sagte er und setzte den Mann im Humvee nach hinten. Ich stieg auch hinten ein und setzte mich auf die andere Seite. Das war meine Fantasie, fast ausschließlich meine, aber Shai verwirklichte sie.
Wir hielten vor dem hinteren Teil der Sanddünen. Shai der Offizier stellte den Motor ab. Das Vibrieren hörte auf. Er öffnete die hintere Tür. »Los, geh«, sagte er. »Keine Angst«, sagte er. Aber der Mann konnte nichts sehen, und er atmete ein und aus, ein und aus.
»Mach schon«, sagte Shai der Offizier. »Du schaffst es«, sagte er. Er legte dem Mann die Hand auf die Schulter.
Der Mann lief vor uns her wie ein Bandit aus einem Spaghettiwestern. Es war schwer für sein Herz mit dieser Angst.
»Halt«, sagte Shai der Offizier. »Dreh dich zu uns.«
Der Mann drehte sich um wie eine Marionette und stand uns gegenüber.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte der Offizier. »Aber«, sagte er, »du kannst Mädchen nicht zuzwinkern. Es gibt bestimmte Dinge in dieser Welt, die kannst du einfach nicht machen.«
Ich öffnete den Mund, um besser atmen zu können. Ich schaute zu.
»Aber ich gebe dir eine Chance«, sagte Shai der Offizier. »Ich werde jetzt schießen, und vielleicht treffe ich dich und vielleicht nicht, aber wenn ich dich nicht treffe, du dich aber bewegst, dann knalle ich dich ganz sicher ab.«
»Ist das in Ordnung?«, fragte Shai der Offizier. »Nicke, wenn du mich verstanden hast«, sagte er. »Du musst nicken«, sagte er. »Tut mir leid.«
Der Mann nickte.
Ich konnte es sehen, aber der Mann mit den verbundenen Augen konnte es nicht sehen: Shai hielt sein M4 nicht auf den Mann gerichtet, sondern in einem Sechzig-Grad-Winkel zum Boden.
Er schoss. Der Mann fiel in den Sand. Er schlug zuerst mit dem Gesicht auf. Er schrie sehr lange, aber erst, als wir den Schuss nicht mehr hören konnten. Ein einziger langer Schrei, eine Minute lang, und dann ein kurzer, und dann atmete er.
Es war sehr gemein, das zu spielen. Es war ein Fehler. Ohne Lea war ich in diesem Spiel nie gut. An dem Abend habe ich gesagt, Wehrdienstverweigerer hätten die Todesstrafe verdient. Ich habe es zu Lea gesagt. Am Telefon.
Eine Woche nachdem Lea von der Armee zurück war, kam es bei ihr im Garten zu einem Gespräch zwischen uns.
Während wir redeten, schlugen Granaten ein, wie sie das dort, wo wir lebten, schon immer getan hatten. Wir hörten zu, wie sie abgefeuert wurden, und warteten auf die Einschläge. Weil wir schon so oft Granaten gehört hatten, konnten wir ziemlich gut vorhersagen, wo sie einschlagen würden. Wir sahen das dicke Grau am Himmel und es kam uns vor, als würden wir denselben Himmel sehen, den wir schon als Kinder gesehen hatten, als wären wir immer noch Kinder.
»Ich hatte Heimweh. Du auch?«, fragte ich Lea.
»Ja, ich hatte schreckliches Heimweh. Ich hatte die ganze Zeit nichts als Heimweh«, sagte sie.
»Schrecklich«, sagte ich.
»Aber diese Granaten, die erinnern mich an die Armee.«
»Na ja, sind halt Granaten.«
»Eben.«
»Aber das sind dieselben Granaten wie früher, bevor wir weggegangen sind«, sagte ich.
»Eben. Aber nicht für mich, verstehst du?«
Das sollte heißen, dass wir Heimweh gehabt und darauf gewartet hatten, endlich kein Heimweh mehr haben zu müssen. Aber jetzt, wo wir wieder zu Hause waren, hatten wir immer noch genauso schreckliches Heimweh. Das Gefühl ging nicht weg.
Ich dachte, das hätte sie gemeint, andererseits hatte sie kein Interesse daran, wieder von zu Hause wegzugehen, ich aber schon, also verstand ich vielleicht doch nicht alles.
Einmal spielten Lea und ich, wir wären Fische und Krüppel und Steine. Und als in der Schule ein Fahrstuhl eingebaut wurde für den einen, von den täglichen Granaten an einem Menschen verursachten Schaden – das verkrüppelte Mädchen –, schrieben wir Regeln auf. Wir nannten den Fahrstuhl »Raumschiff« und hängten innen Regeln für angemessenes Verhalten auf. »Aushang der Raumschiffregeln.« Kein Essen im Raumschiff. Kein Lecken im Raumschiff. Kein Pinkeln im Raumschiff. Kein Rumänisch im Raumschiff. Kein mehr als viermaliges Auf- und Abhüpfen im Raumschiff. Gleich nachdem er gesehen hatte, wie wir den Aushang aufgehängt
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