Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
Wir waren Esther und Meek und Olga. Nie wir selbst. Damals war unsere Welt klein, aber größer als das Leben, denn sie existierte nur in unseren Köpfen.
Wenn du ein Junge bist und zur Armee gehst, kann es sein, dass du stirbst. Oder es kann sein, dass du lebst. Wenn du ein Mädchen bist und zur Armee gehst, ist es unwahrscheinlich, dass du stirbst. Es kann sein, dass du Reservisten zum Sterben in den Krieg schickst. Es kann sein, dass du Demonstrationen an Checkpoints gewaltsam auflöst. Aber es ist unwahrscheinlich, dass du stirbst. Danach kann dir dann alles Mögliche passieren. Es kann sein, dass du einen Job findest. Eine Reise machst. Studierst. Heiratest. Wieder bei deinen Eltern einziehst. Lea und ich zogen beide wieder bei unseren Eltern ein, dort in dem kleinen Dorf an der Grenze zum Libanon. Mittlerweile hatte ich einen Job beim Sicherheitspersonal am Flughafen, der auf mich wartete. Den hatte mir mein Onkel besorgt. Allein hätte ich ihn nicht bekommen. Nicht zu dem Zeitpunkt. Er war gut bezahlt. Dabei musste man nur rumsitzen. Es war gut; das sah selbst ich ein. Lea konnte gar nichts sehen. Sie sah nicht mal, wenn der Aschenbecher auf dem Holztisch bei ihr im Garten überquoll. Sie bekam nicht mal mit, wenn es draußen hell war. Weil sie normalerweise nach Sonnenuntergang aufwachte. Wenn ich sie besuchte, begrüßte mich ihre Mutter immer mit den Worten: »Du hast einen Job. Du hast einen Job, stimmt’s? Hörst du das, Lea? Na, wenn das mal nichts ist.« Und dann umschloss ihre Mutter ihre Hände und ging wieder in die Küche, und wir beide setzten uns nach draußen, schauten in den Olivenhain und rauchten so viel, dass wir nicht reden konnten. In unserem Dorf gab es nur zweiundachtzig Häuser. Eins direkt neben dem anderen, bis das Dorf zu Ende war. Bis auf Leas Haus. Zwischen ihrem Haus und dem Haus der Familie Miller war eine Baulücke. Die Lücke war ein Olivenhain. Und auch wenn es nur logisch gewesen wäre, auch dort ein Haus zu bauen, ging das wegen der Olivenbäume nicht. Es ist strengstens verboten, Olivenbäume zu fällen. Man darf sie noch nicht mal umpflanzen.
Wir waren Mädchen. Ich weiß, wir waren nur Mädchen. In der Armee taten wir das, was wir eben taten, und dann war es vorbei. Dass es Lea schwerfiel, zu reden oder den Garten ihrer Eltern zu verlassen, als wir einundzwanzig waren, hatte nichts mit der Vergangenheit zu tun; das weiß ich. Ich geb’s zu; das Problem war die Zukunft der Vergangenheit. Sie existierte außerhalb unserer Köpfe und war zu groß.
An dem Abend, als Lea mir erzählte, Miller wäre ein Mörder, war ich in ihren Garten zurückgekommen, und es war fast alles genau so, wie es in den letzten Wochen gewesen war. Sie hatte den roten Schlafanzug an. Sie saß auf dem Plastikstuhl, starrte in den Olivenhain und rauchte. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie einen Papierstapel in den Händen hielt. Ich fragte mich, ob sie jetzt ihr ganzes Leben hier in diesem Garten sitzen, in den Olivenhain starren und rauchen würde. An diesem Abend schien das gar nicht mal so unwahrscheinlich. Als würde ihr Leben davon abhängen, zog sie an der Zigarette, bis ihr Gesicht zerfurcht aussah. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Als wir klein und Freundinnen waren, hatte immer sie geredet und mir gesagt, was wir als Nächstes machen und wer wir als Nächstes sein würden. Tage und Wochen saß ich bei ihr und wartete, dass sie sich endlich wieder für irgendwas interessierte, ganz egal was, wenigstens ein kleines bisschen.
Und jetzt war es so weit.
»Wir müssen allen erzählen, dass er ein Mörder ist«, sagte Lea. »Er muss wissen, dass er ein Mörder ist. Einen Olivenbaum kann man nicht mal eben so zerstören. Man muss wollen, dass er stirbt, man muss ihn umbringen.«
Olivenbäume können Tausende von Jahren alt werden. Immer wenn ich die Olivenbäume neben Leas Haus sah, fiel es mir schwer, das zu glauben. Die Baumstämme waren in sich verdreht, als hätte sie jemand unterbrochen, als hätte ihnen jemand Leben eingehaucht.
»Ganz deiner Meinung«, sagte ich zu Lea. Ich war immer ihrer Meinung. Ich werde immer ihrer Meinung sein, ganz egal, was kommt, ich schwör’s.
»Es geht nicht um Meinungen; das ist eine Tatsache«, sagte sie.
»Da geb’ ich dir recht, Lea, aber woher weißt du das?«
Lea erzählte, sie hätte ein paar Nachforschungen angestellt. Anscheinend gab es so gut wie nichts auf der Welt, das einen Olivenbaum töten konnte. Bestimmte Pilze und
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