Das Wahre Kreuz
rechnest mit einer baldigen Schlacht?«
» Musch’arif – ich weiß es nicht«, antwortete er und fuhr in meiner Sprache fort: »Wir müssen jederzeit bereit sein. Deshalb ist es die Pflicht eines jeden Stammes-kriegers, sich einmal am Tag in den Waffen zu üben, sofern ihn nicht andere dringende Aufgaben oder eine Krankheit davon abhalten.«
»Besteht diese Pflicht auch für dich, Scheik?«
Er lächelte dünn. »Ich habe meine heutigen Übungen bereits hinter mir.«
Der Vorfall mit Murads Ohr hatte die anderen Krieger nur kurz von ihren Übungen abgehalten, sie waren schon wieder bei der Sache. Schlachtrufe, Waffenklir-ren, Pferdewiehern und das Trommeln der Hufe klan-gen noch an unser Ohr, als wir diesen Teil des Lagers hinter uns ließen. Jussuf führte mich zu einer der zerklüfteten Felswände, wobei wir eine ausgedehnte Gras-fläche überquerten, auf der zwei vielleicht zwölfjährige Jungen eine Ziegenherde hüteten. Immer wieder warfen sie sehnsüchtige Blicke in Richtung des Übungsplatzes, der ihnen wohl weitaus verlockender erschien als die Weide.
»Noch sind sie Kinder, aber sie brennen darauf, Männer zu sein, Krieger«, stellte Jussuf fest.
»Das muß dich mit Stolz erfüllen.«
»Mit Stolz und mit Trauer«, erwiderte er zu meiner Verwunderung. »Warum mit Trauer?«
»Alle Männer unseres Stammes, die nicht alt sind oder gebrechlich oder, wie der Hakim, mit besonderen Fähigkeiten und Kenntnissen ausgestattet, sind Krieger.
Und jeder Krieger ist ein Held, nicht nur weil er die Seinen beschützt, sondern weil er eine wichtige Aufgabe erfüllt. Darauf bin ich stolz. Aber ein Mann, ein Krieger, zu werden bedeutet auch, das zu verlieren, was das Kind ausmacht, die Unschuld.«
Je näher wir der Felswand kamen, desto gewaltiger erschien sie mir, und ich machte eine entsprechende Bemerkung. »Diese Felsen sind wahrhaftig ein Glücks-fall, und etwas Ähnliches werden wir so leicht nicht wieder finden. Sie bilden ein fast unüberwindliches Hindernis. Ein paar aufmerksame Wachtposten genü-
gen, um das Lager hier und auf der gegenüberliegenden Seite zu verteidigen. Für einen Angriff bleiben nur die beiden schmalen Seiten, die unsere Krieger entsprechend sichern.«
Jussuf blieb stehen und entnahm einer Tasche an seinem Gürtel einen kleinen Gegenstand, der im hellen Licht blitzte. Es war ein Spiegel, mit dem er, wie es aussah, in Richtung des Felsens Lichtsignale gab. Kurz darauf blitzte es auch an mehreren Stellen auf dem Berg auf.
»Die Posten melden, daß alles ruhig ist«, erklärte er und steckte den Spiegel wieder ein. Ich mußte lachen, und er sah mich irritiert an.
»Ihr benutzt die Telegraphie also auch«, sagte ich.
Jetzt grinste der Scheik. »Du hast einen scharfen Verstand, Musâfir!«
»Mein Verstand ist noch ziemlich umnebelt. Vielleicht könnten ein paar Erklärungen das ändern.«
Jussuf zeigte auf ein paar dicht beieinanderstehende Dattelpalmen. »Setzen wir uns in den Schatten, damit du in Ruhe fragen kannst.«
Er breitete seinen gestreiften Überwurf aus, und wir nahmen Platz. Ich bemerkte ein kleines Rinnsal, das mit leisem Gluckern zwischen den Bäumen hindurchfloß und vermutlich in den Bach mündete, an dem die Frauen der Abnaa Al Salieb ihre Wäsche wuschen.
»Wasser, um unseren Durst zu stillen«, sagte Jussuf.
»Es kommt aus den Felsen, nicht wahr?«
»Wie gesagt, du hast einen scharfen Verstand, Musâfir. Die Felsen schützen uns vor unseren Feinden, verbergen das Lager vor den Blicken Fremder und machen dieses Tal fruchtbar.« Wehmütig fügte er hinzu:
»Ein Ort, wie geschaffen, um hier zu leben. Im Frieden noch besser als im Krieg.«
»Und doch bist du stolz, Scheik eines Stammes von Kriegern zu sein?«
»Es ist unsere Bestimmung. Allâh hat es so gewollt.«
»Vielleicht behaupten eure Feinde, die Kreuzritter, von sich dasselbe.«
»Das werden sie wohl tun.«
»Und wer hat recht?«
»Der, der am Ende siegt.«
»Also entscheidet nicht der Wille Gottes, sondern das Kriegsglück?«
»Falsch. Das Kriegsglück wird mit dem sein, der Gottes wahren Willen erfüllt. Wir Menschen sind Gottes Werkzeuge, aber wir müssen versuchen, aus eigener Kraft und eigenem Bestreben das zu erreichen, was Gott uns aufgetragen hat.«
Ich bedachte Jussuf mit einem langen, forschenden Blick. »Was hat Gott den Abnaa Al Salieb aufgetragen?
Hat es etwas mit dem Namen eures Stammes zu tun –
die Söhne des Kreuzes?«
Der Scheik wurde ernst. Er sah mir tief in die
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