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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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Stadien der Fertigstellung; er befand sich im Raum für den letzten Arbeitsschritt, wo die Überstände vom Guss abgeschliffen und die Oberflächen bearbeitet wurden. Er konnte sich nirgendwo verstecken und wollte gerade weiterlaufen, als er etwas erblickte, das wie ein Bündel Gewehre auf Beinen aussah. Er betrachtete es näher und erkannte, dass es eine Militärmaschine war.
    Diese Automaten wurden für das Kriegsministerium hergestellt: Kanonenwagen und Schnellfeuergewehre wie dieses hier, die selbstständig ihre vielen Läufe bedienten. Scheußliche Dinger, die sich im Krimkrieg jedoch als unbezahlbar erwiesen hatten; ihr Erfinder war geadelt worden. Stratton kannte keine Namen, die die Waffe hätten beleben können – es handelte sich dabei um militärische Geheimnisse –, aber lediglich der Körper, auf den das Gewehr montiert war, war automatisch; das Gewehr selbst schoss rein mechanisch. Wenn er den Körper richtig ausrichten konnte, würde er das Gewehr vielleicht selbst abfeuern können.
    Gleich darauf verfluchte er sich für seine Dummheit. Hier gab es keine Munition. Er schlich weiter in den Nebenraum.
    Es war der Versandraum, alles war voller Holzkisten und Strohhaufen. Stratton duckte sich zwischen die Kisten und schlich zur Hinterwand. Durch das Fenster sah er den Hof hinter der Fabrik, wo die fertigen Automaten abtransportiert wurden. Hier kam er nicht hinaus; das Hoftor war über Nacht verschlossen. Der einzige Weg nach draußen führte durch den Vordereingang der Fabrik, aber wenn er den Weg zurückging, den er gekommen war, riskierte er, dem Mörder in die Arme zu laufen. Er musste hinüber in die Keramikabteilung und auf jener Seite der Fabrik zurücklaufen.
    Vom Eingang des Versandraums her erklangen Schritte. Stratton duckte sich hinter ein paar Kisten und erblickte auf einmal, kaum einen Meter entfernt, eine Seitentür. Er öffnete sie so leise wie nur möglich, trat ein und schloss die Tür hinter sich. Hatte sein Verfolger ihn gehört? Er spähte durch einen kleinen Metallrost in der Tür; er konnte den Mann nicht sehen, aber anscheinend war er unbemerkt geblieben. Wahrscheinlich durchsuchte der Mörder den Versandraum.
    Stratton drehte sich um und erkannte augenblicklich seinen Fehler. Die Tür zur Keramikabteilung befand sich auf der anderen Seite. Er war in einen Lagerraum hineingelaufen, in dem fertige Automaten aufgereiht standen, der aber keinen weiteren Ausgang hatte. Die Tür ließ sich nicht abschließen. Er saß in der Falle.
    Gab es hier irgendetwas, das er als Waffe benutzen konnte? Zu dem Aufgebot an Automaten gehörten auch ein paar Maschinen zur Erzgewinnung, deren vordere Gliedmaßen in gewaltige Spitzhacken ausliefen, die jedoch mit Schraubbolzen gesichert waren. Auf keinen Fall konnte er eine davon lösen.
    Stratton hörte, wie der Attentäter Seitentüren öffnete und andere Lagerräume durchsuchte. Da fiel ihm ein Automat auf, der etwas abseits stand – ein Lastenträger, wie man sie zum Transport von Werkzeug benutzte. Er war von menschlicher Gestalt und hier im Raum der einzige Automat dieser Art. Stratton kam eine Idee.
    Er prüfte den Hinterkopf des Lastenträgers. Die Namen der Lastenträger waren vor langer Zeit zum allgemeinen Gebrauch freigegeben worden, daher gab es kein Schloss, das den Namenseinschub schützte; aus dem waagrechten Schlitz ragte ein Stück Pergament hervor. Er holte Notizbuch und Stift, die er immer beide bei sich hatte, aus der Manteltasche, und riss ein kleines Stück leeren Pergaments heraus. Im Dunkeln schrieb er rasch zweiundsiebzig Buchstaben in einer ihm wohlbekannten Kombination, dann faltete er den Zettel zu einem kleinen Quadrat.
    Er flüsterte dem Lastenträger zu: »Stell dich möglichst nah vor die Tür.« Die gusseiserne Gestalt setzte sich in Bewegung und ging zur Tür. Sie bewegte sich gleichmäßig, aber langsam, und der Attentäter würde den Lagerraum nun jeden Moment erreichen. »Schneller«, zischte Stratton, und der Lastenträger gehorchte.
    Gerade als er bei der Tür war, erkannte Stratton durch den Rost, dass sein Verfolger da war. »Aus dem Weg«, bellte der Mann.
    Gehorsam wollte der Automat einen Schritt zurücktreten, doch Stratton riss ihm den Namen heraus. Der Attentäter warf sich gegen die Tür, aber Stratton gelang es, den neuen Namen einzusetzen, und er stopfte das papierene Viereck so tief in den Schlitz wie nur möglich.
    Wieder begann der Lastenträger vorwärtszugehen, diesmal mit schnellen, steifen

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