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Das wandernde Feuer

Titel: Das wandernde Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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für den Schmerz. Für den Schmerz konnte man nicht bereit sein: Man entfaltete mittels dieser Qualen seine Kräfte, und darauf konnte sich niemand vorbereiten.
    Doch er hatte anerkannt, was sich daraus ergab, und er hatte das Zweite Gesicht willkommen geheißen wie eine lang begehrte Geliebte. Mehr als zwanzig Jahre lang hatte er Banor gute Dienste geleistet, obwohl zwischen ihnen immer eine gewisse Distanz festzustellen war.
    Niemals zwischen ihm und Ivor. Keinerlei Distanz, aber Freundschaft, die sich zunächst auf Respekt, dann auf etwas gründete, das darüber hinausging. Den Häuptling des dritten Stammes im Stich zu lassen, der nun Aven sämtlicher Dalrei geworden war, hätte Gereint zerbrochen.
    So geschah es in eben diesem Augenblick.
    Doch er hatte, nun da es zum Krieg zwischen den Mächten kam, keine andere Wahl. Das Mädchen hatte ihn geheißen, ihr nicht dorthin zu folgen, wo sie hinging. Richte den Blick nach Westen, hatte sie gesagt und ihm ihr Bewusstsein eröffnet, um ihm zu zeigen, was ihr bevorstand und was sie bezüglich der Aufgabe Lorens gesehen hatte. Das erstere hatte ihm Schmerz verursacht, wie er ihn nicht gekannt hatte, seit seiner Blendung. Das zweite aber offenbarte ihm, worin seine eigene Bürde bestand, sowie seine gänzlich unerwartete Unzulänglichkeit.
    Lange Jahre hatte er Zeit gehabt, ehe er sein Augenlicht verlor, zu wahrhaftigerer Sehkraft zu finden. Lange Jahre, um die Ebene hinauf und wieder hinab zu wandern, um die Dinge der sichtbaren Welt zu betrachten und ihr Wesen und das der Menschen zu erfassen. Er hatte geglaubt, seine Sache gut gemacht zu haben, und bisher hatte ihn nichts dazu veranlasst, hierüber anderen Sinnes zu werden. Nichts, bis jetzt. Jetzt aber wusste er, in welcher Hinsicht er versagt hatte.
    Er hatte nie das Meer gesehen.
    Wie konnte ein Dalrei, wie klug er auch sein mochte, sich auch nur erträumen, dass dieses eine die tiefgreifendste Herausforderung seines Lebens untergraben könnte? Cernan vom Walde war es, den die Dalrei kannten, und die Grüne Ceinwen. Der Gott, der seinen Platz in Pendaran verließ, um mit den Eltor über die Ebene zu eilen, und die jagende Göttin, die seine Schwester war. Was wussten die Reiter über Liranan, der im Meer geboren war?
    Da gab es ein Schiff, das gen Westen segelte, das hatte das Mädchen ihm gezeigt. Und als er das Bild in ihren Gedanken erblickte, hatte Gereint noch etwas wahrgenommen, etwas, das selbst über das hinausging, was die Seherin von Brennin wusste. Er hatte noch nie das Meer gesehen, doch er musste dieses Schiff finden, wo immer es auch sein mochte draußen inmitten der Wellen.
    Und so verschloss er sich. Er ließ den Aven bar jeglicher Beratung zurück, die er ihm vielleicht hätte bieten können. Eine schlimme Zeit, die allerschlimmste, doch er hatte wahrhaft keine andere Wahl. Er teilte Ivor mit, was er vorhatte, aber nicht wo oder warum. Er ließ zu, dass die Lebenskraft, die seinen gealterten Körper nach wie vor lebendig erhielt, zu einem einzelnen Funken in seinem Innern zusammenschrumpfte. Und dann ließ er sich mit gekreuzten Beinen auf der Matte im Schamanenhaus des Lagers am Ufer des Latham nieder und sandte diesen Funken weit, weit fort von seiner Heimstatt.
    Als später Tumult und wilde Aufregung über die Lager hereinbrachen, bemerkte er nichts davon. Sie trugen seinen Körper mitten durch den Trubel – er hatte Ivor gesagt, man dürfe ihn ruhig bewegen –, doch er merkte es nicht. Zu dem Zeitpunkt befand er sich über Pendaran.
    Er hatte den Wald gesehen. Er konnte mit Hilfe der Erinnerung an ihn und der Konturen, die sie in seinem Bewusstsein annahm, seinen Standort bestimmen und seinen Brennpunkt. Er spürte die dunkle, nachtragende Feindseligkeit des Waldes, und dann noch etwas anderes. Er kam gerade am Anor Lisen vorbei, den er nie gesehen hatte. Im Turm brannte Licht, aber das nahm er natürlich nicht wahr. Dagegen fühlte er, dass sich dort jemand aufhielt, und ihm blieb ein Augenblick Zeit, sich darüber zu wundern.
    Doch nur ein Augenblick, denn danach war er über das Ende des festen Landes hinaus über den Wellen, und er empfand hilflose, schwindelerregende Panik. Er konnte seinen Eindrücken keine Gestalt verleihen, hatte keine Erinnerung daran, wusste kaum einen Namen, mit dem er sie hätte richtig bezeichnen können, und noch dazu schien es, so unmöglich das auch war, Sterne sowohl über als auch unter ihm zu geben. Alt und gebrechlich, blind in der Nacht, befahl er seiner

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