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Das wandernde Feuer

Titel: Das wandernde Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Tisch zu sitzen, während das mühselige Geschäft in Angriff genommen wurde, das Heer aufzuteilen und zu verpflegen. Ihr Vater war da, ebenso Aileron, der Großkönig, wie immer kühl und tüchtig. Bashrai und Shain, die Hauptleute der Wache, standen bereit, um Befehle entgegenzunehmen und sie durch laufende Boten zu übermitteln, die außerhalb des Vorzimmers postiert waren.
    Der andere Mann, zugleich derjenige, welcher sie mit größter Aufmerksamkeit beobachtete, war sozusagen eine Gestalt aus dem düsteren Reich kindlicher Erzählungen. Sie erinnerte sich, dass Marlen, ihr Bruder, im Alter von etwa zehn Jahren immer gespielt hatte, er sei der Krieger, und so getan hatte, als zöge er die Königslanze aus dem Gestein. Und nun war Marlen seit fünf Jahren tot, und neben ihr stand Arthur Pendragon, erteilte mit tiefer, klarer Stimme Ratschläge und schenkte ihr hin und wieder einen Blick und ein freundliches Lächeln. Doch seine Augen lächelten nicht; noch nie hatte sie solche Augen gesehen, nicht einmal bei Brendel, dem Lios Alfar.
    Den ganzen Nachmittag ging es so weiter. Sie saßen über die Karte gebeugt und über die unzähligen Aufstellungen, die Aileron vorbereitet hatte. Das war notwendig, wie ihr durchaus klar war, doch zugleich erschien es ihr irgendwie sinnlos. Zu einem Krieg im eigentlichen Sinne würde es nicht kommen, solange der Winter andauerte. Rakoth erzeugte diesen Winter mitten im Sommer, aber sie wussten nicht wie, und deshalb konnten sie nichts unternehmen, um dem ein Ende zu machen. Der Entwirker musste sich nicht auf das Wagnis einer Schlacht einlassen und würde es auch nicht tun. Er würde dafür sorgen, dass sie erfroren oder verhungerten, sobald die gelagerten Nahrungsmittelvorräte ausgingen. Begonnen hatte es schon: Die Älteren und die Kinder, immer die ersten Opfer, starben bereits in Cathal und in Brennin und auf der Ebene.
    Wozu waren angesichts der grausamen Wirklichkeit derart abstrakte Pläne wie der, Streitwagen als Barrikaden einzusetzen, sollte Paras Derval angegriffen werden, überhaupt nutze?
    Doch sie sprach das nicht laut aus. Sie verhielt sich still und hörte zu, und als der Nachmittag zur Hälfte vorbei war, hatte sie so lange geschwiegen, dass die anderen sie vergaßen und sie ihnen entwischte und sich auf die Suche nach Kim machte.
    Es war Gorlaes, der allwissende Kanzler, der ihr den Weg wies. Sie machte sich auf, ein Übergewand aus ihren Gemächern zu holen, und stellte fest, dass der weiße Mantel bereits auf ihre Größe geändert worden war. Ohne eine Miene zu verziehen, warf sie ihn sich über und kletterte über sämtliche Treppen nach oben, wo sie hoch über dem Erdboden auf ein Türmchen hinaustrat, auf welchem Kim in Pelzmantel und Handschuhen stand, doch ohne Kopfbedeckung, so dass ihr das erstaunlich weiße Haar immer wieder in die Augen peitschte. Im Norden lag eine lang gestreckte Wolkenbank über dem Horizont, und von dort her wehte auch der Wind.
    »Sturm kommt«, prophezeite Sharra und lehnte sich neben der anderen Frau an die Brüstung.
    »Unter anderem.« Kim brachte ein Lächeln zustande, doch ihre Augen waren rot vom Weinen.
    »Sprich dich aus«, bot ihr Sharra an. Und hörte zu, während sich der Wortschwall über sie ergoss wie eine lange aufgestaute Flut. Der Traum. Der tote König und der untote Sohn. Die ermordeten Kinder und Jennifer, die in Starkadh innerlich zerstört worden war. Das eine, Unvorhergesehene: Guinevere. Gram im Herzen, im Herz aller Dinge.
    Kalt war ihnen vom brausenden Wind, als die Geschichte zu Ende war. Ausgekühlt und still waren sie, im Angesicht des bitteren Nordens. Keine von beiden weinte; es war der Wind, der ihnen gefrierende Tränen auf die Wangen legte. Die Sonne im Westen glitt immer tiefer. Vor ihnen türmten sich die Wolken am Horizont.
    »Ist er hier?« fragte Sharra. »Der andere? Der dritte?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Wo ist Jennifer?«
    »Im Tempel, bei Jaelle.«
    Erneutes Schweigen, bis auf den Wind. Es war reiner Zufall, dass ihrer beider Gedanken nun im Nordosten weilten, wo ein hellhaariger Prinz an der Spitze von dreißig Männern dahinritt.
    Kurze Zeit später verlor sich die Sonne hinter den Baumkronen des Mörnirwaldes, und die Kälte wurde unerträglich. Sie begaben sich nach drinnen.
     
    Doch nach drei Stunden standen sie wieder auf diesem Turm, mit dem König und, wie es schien, seinem halben Hofstaat. Es war völlig dunkel, und grimmiger Frost klirrte, doch das fiel diesmal niemandem

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