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Das wandernde Feuer

Titel: Das wandernde Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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immer das auch sein mochte.
    »Dies ist keine Nacht, um allein zu sein«, ließ sich dicht hinter ihr eine Stimme vernehmen. Er drehte sich um und gewahrte Liane. In ihren Augen lag eine ungewisse Scheu.
    »Sei gegrüßt«, sagte er. »Ich habe dich beim Festmahl nicht gesehen.«
    »Ich war nicht da. Ich habe bei Gereint gesessen.«
    »Wie geht es ihm?« Er setzte sich in Bewegung, und sie ging auf der breiten Straße neben ihm her. Zu beiden Seiten kamen andere Paare an ihnen vorbei, lachend und eilig bestrebt, ins Warme zu kommen. Es war sehr hell, da das Mondlicht auf den Schnee fiel.
    »Recht gut. Aber er ist nicht froh, nicht so wie die anderen.«
    Er warf ihr einen raschen Blick zu und nahm dann, weil ihm das richtig erschien, ihre Hand. Sie trug ebenfalls keine Handschuhe, und ihre Finger waren kalt.
    »Warum ist er nicht froh?« Aus einem nahe gelegenen Fenster drang unvermittelt Gelächter, und eine Kerze erlosch.
    »Er glaubt, dass wir es jetzt nicht schaffen.«
    »Was sollten wir denn schaffen?«
    »Dem Winter ein Ende zu bereiten. Wie es scheint, ruft Metran ihn hervor – vom Ort der spiralförmigen Bewegung aus, Cader Sedat, draußen auf dem Meer.«
    Ein Stück Weges gingen sie schweigend dahin, und Kevin spürte, wie sich in seiner Seele ein noch tieferes Schweigen ausbreitete, und plötzlich bekam er es mit der Angst. »Sie können nicht dorthin«, befürchtete er leise.
    Nun war die Reihe an ihr, ihm einen Blick zuzuwerfen, und ihre dunklen Augen waren betrübt. »Nicht im Winter. Sie können nicht in See stechen. Sie können dem Winter kein Ende machen, solange der Winter anhält.«
    Da kam es Kevin vor, als habe er eine Vision seiner eigenen Vergangenheit, von seiner Jagd nach einem flüchtigen Traum, der ihn im Wachen wie im Schlaf durch all seine Nächte begleitet hatte. In seiner Seele herrschte völlige Stille. Er sagte: »Damals, als wir zusammen waren, hast du behauptet, dass ich Dun Maura in mir trage.«
    Sie blieb mitten auf der Straße stehen und wandte sich ihm zu.
    »Ich erinnere mich«, entgegnete sie.
    »Also«, fuhr er fort, »da geht was ganz Seltsames vor. Ich spüre überhaupt nichts von dem, womit alle übrigen heute Abend geschlagen sind. Dafür spüre ich etwas anderes.«
    Ihre Augen weiteten sich im Mondlicht. »Der Eber«, flüsterte sie. »Der Eber hat dich gezeichnet.«
    Das auch. Bedächtig nickte er. Nach und nach klärte sich alles auf. Der Eber. Der Mond. Die Mittsommernacht. Der Winter, der kein Ende nehmen wollte. Nun reimte sich in der Tat alles zusammen, und Kevin begriff endlich und bewahrte zugleich seine innere Ruhe.
    »Du lässt mich jetzt besser allein«, bat er so rücksichtsvoll wie möglich.
    Es dauerte einen Augenblick, ehe ihm klar wurde, dass sie weinte. Das hatte er nicht erwartet.
    »Liadon?« fragte sie. Und sprach damit den Namen aus.
    »Ja«, gestand er. »Es sieht ganz danach aus. Du lässt mich jetzt besser allein.«
    Sie war sehr jung, und er dachte, sie würde sich möglicherweise weigern. Doch er hatte sie unterschätzt. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen fort, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, küsste ihn auf den Mund und ging in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren, den Lichtern entgegen.
    Er blickte ihr nach. Dann wandte er sich dorthin, wo die Stallungen waren. Er fand sein Pferd. Während er es sattelte, hörte er vom Tempel her die Glocken läuten, und seine Bewegungen verlangsamten sich einen Augenblick lang. Nun würden die Priesterinnen der Dana sich unters Volk mischen.
    Er zog den Sattelgurt fest und stieg aufs Pferd. Leise lenkte er es im Schrittempo die Zufahrt entlang und brachte es in den Schatten zum Stehen, wo der Weg auf die Straße zwischen Morvran und dem Tempel mündete. Als er den Blick nach rechts richtete, konnte er sie kommen sehen, und gleich darauf sah er die Priesterinnen vorüberziehen. Einige rannten und andere schritten langsam dahin. Sie trugen allesamt lange graue Umhänge zum Schutz vor der Kälte, und alle ließen sie das Haar offen über den Rücken fallen, und alle Frauen schienen im Mondlicht ein wenig von innen heraus zu leuchten. Sie gingen vorbei, und als er sich nach links wandte, sah er, dass die Männer ihnen aus der Stadt entgegenkamen, und das Mondlicht war außerordentlich hell und erleuchtete Schnee und Eis und all die Männer und Frauen, die auf der Straße zusammentrafen.
    Sehr bald jedoch war die Straße wieder menschenleer, und dann verstummten auch die Glocken.

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