Das Weihnachtshaus
großzügig sie war. Welche Frau mit einem Ehemann und zwei Kindern würde zu Weihnachten einen dahergelaufenen Übernachtungsgast nicht als Belastung ansehen? Ganz besonders einen Übernachtungsgast, der fremd war?
Ellie kam mit einem roten Weihnachtsbecher auf einem Tablett zurück und brachte ihn mir ans Bett. Zusammen mit dem Kakao hatte sie ein kleines Croissant gebracht, eine Scheibe gerösteten Toast und ein Schälchen Orangenmarmelade. Ich kam mir albern vor, wie ein Kind, das mit Freundlichkeit überschüttet wird, obwohl es die Krankheit nur vorgetäuscht hat, um die Schule schwänzen zu können.
«Kommen Sie einfach herunter, wenn Sie Lust haben.»
«Vielen Dank.»
Ellie winkte mir zu und schloss die Tür, doch ein Zipfel ihres Morgenrocks blieb in der Tür hängen. Sie kicherte, öffnete die Tür noch einmal, zog den Morgenrock heraus und schloss die Tür wieder. Sie mochte zwar ihr ganzes Glitzerzeug beim Duschen entfernt haben, aber mir kam sie immer noch vor wie eine Zuckerfee.
Ich frühstückte in aller Ruhe im Bett und schlüpfte danach wieder unter die Daunendecke, um ein wenig zu dösen. Ich begann zu begreifen, warum meine Mutter nach unserem Schokoladenfrühstück immer so schnell wieder schlafen konnte. So viel Schokolade auf einmal setzte bestimmt eine Menge Endorphine frei, aber so viel Zucker auf leeren Magen konnte auch schläfrig machen, und genau das passierte jetzt auch mit mir.
Der Schlaf, in den ich glitt, war wohltuend. Ich träumte von Ellie und Edward, die mich einluden, mit ihnen zu essen. Der Tisch bog sich unter allen möglichen köstlichen Speisen. Gelächter hallte von den Wänden wider, und Julia kam zu mir und kletterte auf meinen Schoß.
Ich wachte auf und streckte mich. Ich hatte wahrscheinlich nur zehn bis fünfzehn Minuten geschlafen, doch das Nickerchen hatte mich erfrischt. Ich griff in meine Schultertasche neben dem Bett und holte die blaue Samttasche mit den goldenen Troddeln heraus. Das Foto war noch da. Ich starrte es an und wusste, dass ich mir das alles nicht nur eingebildet hatte. Es war dasselbe Foto wie das auf dem Kaminsims.
Meine Geburtsurkunde lag seit langer Zeit in einem Safe im Schrank meiner Wohnung in San Francisco. Das zusammengefaltete Programmheft war noch in der Samttasche. Ich schaute es an und las noch einmal die Worte, die ich schon so oft gelesen hatte:
«Das Lake Shore Community-Theater präsentiert DER STURM von William Shakespeare».
Der Name meiner Mutter stand neben der Rolle der Miranda. Es wäre so hilfreich gewesen, so augenfällig, wenn der Name «James Whitcombe» neben einer der anderen Rollen aufgetaucht wäre. Dann hätte ich es schwarz auf weiß und könnte erklären, dass meine Mutter sich in einen Schauspieler verliebt hatte, in ebendiesen James Whitcombe, und dass ich neun Monate später meinen großen Auftritt auf der Bühne des Lebens gehabt hatte.
Aber wie alle Details aus dem Leben meiner Mutter war auch dieses weder einfach noch augenfällig.
Noch einmal las ich das Programmheft durch. Am Schluss, unten auf der Seite, entdeckte ich etwas Kleingedrucktes: «Ein besonderer Dank für die Unterstützung geht an die Gesellschaft des Grey Hall Community-Theaters.»
Ich setzte mich auf und las die zierliche Schrift noch einmal. «Gesellschaft des Grey Hall Community-Theaters», hatte auf der Gedenktafel an der Grey Hall gestanden, wo am gestrigen Abend die Aufführung stattgefunden hatte. Doch da hatte ich die Verbindung noch nicht hergestellt.
Jetzt hatte ich einen weiteren kleinen Anhaltspunkt. Hatte James Whitcombe mit der Gesellschaft des Grey Hall Community-Theaters zu tun gehabt? Andrew hatte erzählt, dass Sir James durch seine Position und seinen Einsatz für das Theater viel für die Gemeinde getan hatte. Hatte ihn sein Engagement vielleicht nach Amerika und dort in ein kleines Theater geführt, das diese unbedeutende Aufführung von Der Sturm zeigte?
Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem Lake Shore Community-Theater und dem Grey Hall Community-Theater? Die Truppe des Lake Shore war damals in Michigan. Ich wurde in Michigan, geboren und bin kurz darauf irgendwie an der Westküste gelandet. Hatte meine Mutter Familie in Michigan, oder war sie einfach auf der Durchreise gewesen, als sie sich der Theatertruppe anschloss?
Es schien, als täte sich mit jedem neuen Hinweis auch eine ganze Reihe neuer Fragen auf. Viele dieser Fragen würden oder könnten niemals beantwortet werden. Manch einer Antwort schien
Weitere Kostenlose Bücher