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Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition)

Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition)

Titel: Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Bukowski
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der Armenhilfe. Im Dorf unter ihr gebe es viele Arme, und es habe sie gefreut, von mir zu hören.
    Dem Brief lag kein Geld bei; ich wendete ihn hin und her in meiner dunklen Hütte, es fror drin wie draußen, und ich saß da in meinen dünnen kalifornischen Klamotten und riss den Umschlag auseinander und schaute in jeden Winkel – nichts. Verdienten die armen Italiener mehr Hilfe als arme Amerikaner, spürten ihre Bäuche den Hunger stärker?
    Ich verschwand aus Atlanta, indem ich mich einer Gleisarbeiterkolonne anschloss, die nach Westen fuhr, und musste mich gegen die ganze Bande wehren, weil ich über ihre dreckigen, abgeschmackten Witze nicht lachen konnte. »Mit dir ist doch was faul, Mann!« »Ja, ich weiß … kommt mir bloß nicht zu nah!« … und so brachte mich der alte Personenwaggon mit den dreckverkrusteten Fenstern von einer Hölle zur nächsten.

Der Andere
    Ich lag zu Hause auf dem Bett, als ich es zum ersten Mal bemerkte. Die Badezimmertür stand einen Spalt weit offen, und vor dem Spiegel stand – so schien es zumindest – ein Mann, und dieser Mann sah mir sehr ähnlich. »HEY!«, rief ich. Ich sprang vom Bett hoch und lief zum Bad. Als ich hinkam, war es leer – es war niemand drin. Ich ging mit meinem bösen Kater wieder ins Bett. Auf dem Radiowecker war es 13:32. Ich überlegte, was ich da gerade gesehen oder mir zu sehen eingebildet hatte. Dann schob ich den Gedanken weg. Es war noch früh genug, auf der Bahn ein paar Rennen mitzukriegen. Ich zog mich an …
    Zum dritten Rennen war ich da. Es war Mittwochnachmittag und nicht allzu viel Betrieb. Ich wettete aufs dritte Rennen, verlor und ging mir einen Kaffee und ein Sandwich holen.
    Schon fühlte ich mich besser. Auf der Rennbahn konnte ich mich entspannen. Eine blöde Örtlichkeit vielleicht, aber was Besseres zum Entspannen kannte ich nicht. Ohne die Rennbahn und ein paar Drinks ab und zu konnte das Leben ziemlich düster und sinnlos sein.
    Nach dem Imbiss ging ich zum Wasserspender. Der befand sich ganz hinten auf der Westseite der Tribüne. Im Gehen hörte ich Schritte hinter mir. Ich mochte es nicht, wenn jemand hinter mir ging. Ich änderte die Laufrichtung, hörte die Schritte aber dennoch weiter hinter mir. Dann tippte mir jemand auf die Schulter.
    »Entschuldigen Sie, Sir …«
    Ich blieb stehen und drehte mich um. Der Mann sagte: »Wo finde ich hier bitte die Herrentoilette?«
    »Da müssen Sie zurück zu den Wettschaltern. Rechts dahinter ist eine Treppe. Die gehen Sie runter.«
    »Danke«, sagte der Mann, drehte sich um und ging davon.
    Ich war sprachlos. Der Mann hatte genau wie ich ausgesehen. Ich hätte ihn in ein Gespräch verwickeln sollen. Ihn festhalten sollen, um mehr rauszufinden. Er war schon fast an der Treppe zur Herrentoilette. Dann sah ich ihn runtergehen. Ich lief hinterher.
    Ich stieß die Tür zur Toilette auf und ging rein. An den Waschbecken war er nicht. Ich ging um die Ecke und sah am Pissoir nach. Da war er auch nicht. Er musste in einer Kabine sein. Nur drei Kabinen waren besetzt; ich konnte die Schuhe unter den Türen sehen.
    Wartete ich eben. Ich lehnte mich an die Wand gegenüber und tat, als läse ich die Rennzeitung. Kurz darauf kam ein Mann aus einer der Kabinen. Es war ein kleiner Schwarzer in einem Blaumann. Er sah, wie ich ihn über die Zeitung hinweg anblickte. Er war freundlich.
    »Heißen Tipp fürs Rennen?«, fragte er.
    »Nein, gar nichts«, antwortete ich.
    Er ging zum Waschbecken, um sich zu waschen.
    Die nächste Kabinentür ging auf. Ein alter Mann kam heraus. Krumm und bucklig, der Ärmste. Er konnte kaum laufen. Aber er brauchte die Rennbahn. Er war ihr verfallen. Er schaffte es glücklich zum Waschbecken und fing an, sich die Hände zu waschen.
    Blieb noch eine Kabine. Ich wollte den Kerl zur Rede stellen, wenn er rauskam. Er musste ja wohl die Ähnlichkeit zwischen uns bemerkt haben. Wer war das? Wieso hatte er nichts dazu gesagt? Mein Gesicht musste doch wie ein Blick in den Spiegel für ihn gewesen sein.
    Ich sah, wie sich die letzte Kabinentür öffnete. Ich ging hin. Ein Mann kam heraus. Es war ein Orientale. Ich war weiß, ein müder kalifornischer Weißer.
    »Hören Sie«, sprach ich ihn an.
    »Ja, was ist?«, fragte er.
    »Nichts«, sagte ich.
    »DIE PFERDE SIND AM START!«, hörte ich den Bahnsprecher.
    Ich eilte hinauf in die Wettschlange. Vor mir stand noch ein müder weißer Kalifornier und vor ihm ein müder Mittelamerikaner. Der müde Mittelamerikaner hatte Mühe,

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