Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition)
350-Dollar-Apartment in Los Angeles. Nina drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage und kündigte uns an; es summte, und die Tür ging auf. Wir fuhren zum fünften Stock hoch. Karyn machte uns auf. Sie war 22, kleiner als Nina, die schon ziemlich klein war – von Kopf bis Fuß gesehen (beide Mädchen waren groß, wo sie groß sein sollten, und klein, wo sie klein sein sollten). Es schien, als wären sie eigens zurechtgemeißelt, um Männern den Verstand zu rauben. Beide sahen aus wie Kinder, die plötzlich Frauen geworden, irgendwie aber noch Kind geblieben waren. Es war ein schmutziger Trick gegenüber den Männern, aber auch ein schmutziger Trick der Natur, denn auf eine, die so geformt war, kamen 5000, die hässlich, unförmig, ungeschlacht, krumm oder blind waren, ein Hohlkreuz oder zu große Hände oder keinen Busen hatten und so weiter und so fort. Es war ungerecht, aber wenn man sie sah, dachte man nicht an Gerechtigkeit, man dachte an Sex und Liebe, an Lachen und Zanken mit ihnen, oder wie man mit ihnen im Café saß oder mittags oder morgens um drei oder sonst irgendwann mit ihnen die Gehsteige entlanglief.
Karyn hatte lange schwarze Haare, blaue, beinah gütige Augen und Lippen, bei denen man an Küssen, Küssen und sonst fast gar nichts dachte. Als würde Küssen allein schon genügen, aber natürlich wäre es einem doch nicht genug. Wenn sie einen Makel hatte, dann war es die zu kurze und zu runde Stupsnase, genau wie Ninas Nase zu lang und zu spitz anmutete. Doch bei beiden landete der Blick schließlich auf der Nase und blieb da. Man fühlte sich körperlich erregt, als wäre gerade der Makel die Krönung der ganzen Schönheit – als wäre ohne ihn die Schönheit nicht so schön.
Da saß ich nun also mit meinen 56 Jahren nachmittags um Viertel vor vier in West L. A., flankiert von zwei der bestaussehenden Frauen Amerikas – oder der ganzen Welt, was das betrifft. Und zwei der aberwitzig härtesten Frauen der Welt; sie waren in ihren Formen befangen und in der Art, wie andere auf diese Formen ansprachen, und dadurch fiel es ihnen schwer, Mensch zu bleiben. Beide hatten aber noch das innere Feuer und die Freude am Risiko; sie setzten nicht einzig aufs Aussehen. Es war verwirrend und tödlich und wunderbar.
Beim ersten Mal passierte nicht viel; Nina löhnte die $ 20 für die Tabletten – Speed –, und das war definitiv zu viel dafür, allerdings löhnte ich sie aus meiner Tasche, insofern war es nicht zu viel – für Nina. Sie bekam die Tabletten, nur leichte »Stimmungsaufheller«, und jeder von uns nahm eine. Karyn hatte ihren Fernseher an – 50 Zoll, Kabel, Farbe. Sie unterhielten sich. Hauptsächlich übers Modeln. Karyn hatte einen Modeljob für $ 50 die Stunde. Einige der harmloseren Fotos zeigte sie uns. Sie waren nicht schlecht. Wir sahen sie durch. Ich suchte mir mein liebstes raus, schwenkte es in der Luft, drückte einen Kuss drauf und gab es ihr zurück. Dann erzählte Nina von ihren Modelerfahrungen. Das meiste war in Ordnung. Aber Fotzenaufnahmen hasste sie – Gott, wie sie das hasste. Sie hatte keine Möse wie die meisten; ihre Möse war wirklich süß. Herrgott, bei manchen sah es aus, als hingen ihnen haarige Brieftaschen aus dem Arsch. Scheußlich. Ninas Möse war okay. Ich nickte: ja, ja. Sie erzählte weiter, dass eines Tages dann ihre Mutter an ihre Handtasche geraten war und so ein paar Fotos entdeckt hatte, und dass die Fotos eigentlich in Ordnung waren, ihre Mutter das aber nicht begriff. Es hing mit der neuen Zeit zusammen – die Mutter kannte sich da einfach nicht aus. An sich hatte sie nur ein Foto gestört: Nina nackt, wie sie mit zurückgeworfener Mähne, wild und rot, Arme gespreizt, Blick zur Decke, auf den Fußboden pisste. Eigentlich ganz sexy; richtig sexy sogar. Die Mutter heulte los. Nina musste ihr eine knallen. Es war wirklich schlimm. Aber die Alte hatte kein Recht, in ihrer Handtasche zu schnüffeln, oder?
Dann ging Karyn raus, kam mit einem Haufen Blusen wieder und fragte mehr oder weniger: Meinst du, die passen dir, Süße? Und Nina stand auf und probierte sie an. Sie stand auf und probierte sie an, und sie hatte keinen BH an. Und Karyn und ich saßen da und schauten zu, wie sie sie anprobierte und immer wieder mal ihre milchweißen Brüste herzeigte, die Brüste einer 90 Kilo schweren Schwangeren, wie angeschweißt an den Körper eines Kindes. Herr Jesus . Sie knöpfte sich vor dem Spiegel auf und zu. »Was für eine gefällt dir,
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