Das weisse Kaenguruh
Die Erfahrungen mit seiner Diplomarbeit hatten ihn nachhaltig geläutert. Er wußte inzwischen nur zu gut, was man von ihm erwartete. So blieb er streng sachlich, vermied jedwede Kritik am System und versuchte darüber hinaus, sauber und vor allem leserlich zu schreiben. Das war einer von zwei Tips, die er sich gut gemerkt hatte. »Schmieren Sie nicht rum und, bei Gott, gliedern Sie«, hatte ein Gesandter der Fakultät die Studenten bei einer Examensvorbereitungsvorlesung beschworen. »Wenn Sie nicht gliedern, können Sie es gleich vergessen.« Und so gliederte Billy. Und schrieb schön. Seite um Seite. Fünf schreckliche Klausuren lang. Und jedesmal, wenn er bis zur letzten Sekunde alles gegeben hatte und völlig verausgabt seine Prüfungsunterlagen abgab, hatte er dasselbe Gefühl. Er hatte keins.
Die Ergebnisse kamen Anfang Mai. Zwei Monate mußte Billy darauf warten, daß das Urteil über seine Zukunft gesprochen wurde. Es war keine schöne Zeit. Jeden Tag aufs neue fühlte er sich wie der Asylant aus Schwarzafrika, über dessen Abschiebung aus der goldenen Bundesrepublik verhandelt wird. Er fiel in das dunkle Loch, das sich existentielle Ungewißheit nennt, und versuchte, sich darin – so gut es ihm eben möglich war – zurechtzufinden. Zur Sicherheit fing er wieder mit dem Trinken an. Kategorisch. Der Fatalismus in Flaschenform wurde dabei sein bester Freund. Jetzt konnte er sowieso nichts mehr machen. »Ruhe bewahren und Schock bekämpfen«, lautete daher seine Strategie. Er hatte alles gegeben, fand er, und er hoffte, daß der liebe Gott das genauso sah. Zwei ewige Monate lang. Und Prost!
Dann war es soweit. »Die Ergebnisse hängen jetzt aus«, hieß die frohe Kunde aus dem Prüfungsamt, und Billy machte sich sofort auf den Weg. Der Tag der Entscheidung war endlich gekommen. Sein Leben war in den vergangenen Wochenein einziger Trancezustand gewesen, ohne jede Bodenhaftung und völlig sinnentleert. Er rechnete zwar mit dem Schlimmsten, aber er war nicht darauf vorbereitet. Das stumpfe Warten hatte ihm den Rest gegeben. Er war auf einer Reise, deren einziges Ziel das Unten war. Der Alkohol war sein Ticket in den Abgrund, und jetzt schien seine ganze Existenz nur noch einen einzigen Wunsch zu haben. Er wollte endlich ankommen. Wo auch immer.
Er hatte eine Flasche Bier zwischen den Beinen, als er mit dem Auto nach Köln fuhr, und er riß sich ein zweites auf, als er die heiligen Hallen der Universität betrat. Dann stand er plötzlich vor dem Aushang mit den Ergebnissen, und die Erde öffnete sich. Es war, als fielen von einer Sekunde auf die andere all seine Sorgen in einen Strom glühender Lava, um dort mit einem einzigen, lauten Zischen zu verdampfen. Am Anfang wollte er es gar nicht glauben. Aber er hatte sich nicht verlesen. Er hatte bestanden. Seine letzten fünf Klausuren. Mit jeweils 4,0. Das war irrsinnig schlecht. Es war sogar das schlechteste Ergebnis seines Jahrgangs. Aber es reichte aus. Er war jetzt Diplom-Kaufmann. Nach mehr als sieben Jahren!
Billy steckte sich eine Kippe an und ging nach draußen. Dann fing er an zu schreien. Er schrie, als hätte er gerade die Elfenbeinküste durch ein Golden Goal zur Fußballweltmeisterschaft geschossen. Er schrie und wollte nicht mehr aufhören. Die Menschen auf der Straße drehten sich nach ihm um, doch er merkte es gar nicht. Er spürte nur noch sich selbst. Zum ersten Mal seit Monaten hatte er das Gefühl, wieder am Leben zu sein, und dieses Gefühl war König, Kaiser, Edelmann. Die ganze Scheiße hatte sich am Ende doch gelohnt, und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatte endlich seine moribunde Gegenwart abgelöst. Billy wurde zum zweiten Mal geboren, und er dankte dem Herrscher der Welt für sein Erbarmen. Er schrie es hinaus. Er tanzte zum Rhythmus seinerErleichterung. Er sprang in die Luft und landete nicht. Minutenlang. Dann griff er zum Telefon. Der wichtigste Anruf seines Lebens stand bevor und konnte nicht mehr länger warten.
Eine Woche ist zu lang.
Annabelle sollte es als erste erfahren, und Billy war in bester Laune, als er sie anrief. Jetzt würde alles wieder werden, glaubte er. Er hatte sein Versprechen nicht vergessen und wollte alles dafür tun. Er wußte, daß er die Pest gewesen sein mußte für sie, aber ebenso war er davon überzeugt, daß er schnell wieder der werden konnte, in den sie sich einst verliebt hatte. »Was ist schon ein halbes Jahr für die Liebe?« dachte er sich und hatte keine Ahnung, wie sehr er sich
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