Das Weisse Kleid Des Todes
ganzen Land beten Leute für sie, schreiben ihr Briefe – natürlich stirbt sie nicht. Sie kann gar nicht sterben.« Clare faltete die Hände und drückte sie auf ihren Mund, als wollte sie ein Gebet in ihre Kehle zurückdrängen. »Das ging vier Monate so. Danach wurde dieses ›Sie kann nicht sterben‹ zum Problem, nicht die Heilungsaussichten. Verstehen Sie etwas von Dickdarmkrebs?«
Russ schüttelte den Kopf.
»Grace litt Todesqualen. Sie war ja schon von der Chemo halb tot. Sie hatte fürchterliche Schmerzen, jeden Tag, rund um die Uhr. Dass sie jung und stark war, wurde … zum Fluch; ihr Körper hielt verbissen am Leben fest, war buchstäblich … nicht totzukriegen.« Clare stützte das Kinn auf ihre zusammengeballten Hände. »Es gab da einen Assistenzarzt, mit dem sie gegangen war. Harry Jussawala. Er kam regelmäßig zu Besuch und blieb manchmal bei ihr, wenn sie im Krankenhaus lag.« Clare holte tief Luft. »Er besuchte uns auch an Thanksgiving. Meine Familie lädt dann immer Freunde und Verwandte ein. Unser Haus steht allen offen. Ich hatte gerade Dienst. Damit einer von den verheirateten Typen bei seiner Familie sein konnte, deshalb war ich nicht da. Jedenfalls, die anderen waren in der Küche oder draußen, da ging Harry in Grace’ Zimmer und verabreichte ihr fünfzig Valiumtabletten in Preiselbeersaft und Wodka.« Sie sah zu Russ. »Ziemlich harter Drink, was? Das hab ich nämlich gehört, durch die Ermittler.« Ihre Lippen zuckten. »Ein so genannter Cape Codder, kapieren Sie? Ihr Lieblingsgetränk. Innerhalb von dreißig Minuten ist sie gestorben. Als meine Mom mal nach ihr sah, war sie tot.«
Russ wusste nicht, was er sagen sollte. Ihm blutete das Herz. »O Clare. Das tut mir so leid.«
»Harry wurde nie vor Gericht gestellt. Es war die Rede von Mord, dann von Totschlag, aber im Endeffekt konnte niemand etwas beweisen, außer dass er das aufgelöste Valium in ihr Zimmer gebracht hat. Er verlor seine ärztliche Zulassung, und bis zum heutigen Tage weiß ich nicht, ob es ihr eigener Wunsch war oder ob er aus Mitleid gehandelt hat. Sie hinterließ keinen Abschiedsbrief – nichts.« Clares Beherrschung fiel in sich zusammen. »Ich habe ihr nie Lebewohl sagen können.« Heftig blinzelnd unterdrückte sie ihre Tränen. »Und wissen Sie, was das Schreckliche daran ist? Dass ich bis heute nicht weiß, ob ich Harry Jussawala segnen oder verfluchen soll. Sie hat gelitten, ohne Zweifel, und am Ende stand ihr Tod. Aber noch war sie ja am Leben! Den Gnadenstoß zu erhalten wie ein kranker Hund …« Sie schüttelte energisch den Kopf und presste ihre Lippen zusammen. Wieder rieb sie sich das Gesicht – schniefte. »Tut mir leid. Ich spreche sonst nie darüber. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
Beim Abbiegen in die Church Street wich Russ einem Schneepflug aus, der auf der Gegenspur fuhr. »Es ist spät, und Sie sind müde«, sagte er. »Wissen Sie, Erschöpfung ist wie ein Wahrheitselixier. Man sagt oder tut dann Dinge, die einem sonst gar nicht einfielen.« Er hielt an einer Ampel und sah sie an. »Ich glaube, nach der ganzen Geschichte mit Kristen und ihrer Schwester haben Sie es gebraucht, über Grace zu reden, und Sie brauchten einen Freund. Es würde mich freuen, wenn ich als solcher qualifiziert bin.«
Sie wischte sich mit einem Finger unter der Nase entlang und lächelte Russ dünn an. »Das sind Sie, sehr sogar. Danke.«
Er fuhr an dem Park und an St. Alban’s vorbei weiter auf die Elm Street. Ohne auf Clares Proteste zu achten, dass er gar nicht versuchte, in ihre Einfahrt hineinzukommen, legte er den zweiten Gang ein und wühlte mit seinen Reifen einen Pfad bis zu ihrer Küchentür. Er wollte verdammt sein, wenn sie in diesen windigen Stiefelettchen einen Schritt weiter als nötig gehen musste.
Er ließ den Pick-up im Leerlauf stehen. »Die Typen von der ›Friedhofsschicht‹ schauen gegen Morgen immer bei mir vorbei«, sagte er. »Geben Sie mir Ihren Schlüssel. Dann sag ich über Funk Bescheid, dass einer Ihren Wagen in die Stadt zurückfährt, vorausgesetzt, die Straßen sind bis dahin geräumt.« Clare nickte und rieb sich erneut die Augen, bevor sie eine Schlüsselkette aus ihrer Tasche zog. Sie wirkte wie ein kleines Kind am Ende eines zu langen Tages: gerötete Wangen und verheulte Augen. Sie zog einen Schlüssel vom Ring und reichte ihn Russ. »Muss ich mit reinkommen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Als ich heute Abend losgefahren bin, habe ich gehofft,
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