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Das Weisse Kleid Des Todes

Das Weisse Kleid Des Todes

Titel: Das Weisse Kleid Des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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schlitternd, aber noch vor der eigentümlich gewinkelten Kreuzung zwischen Route 39 und Tanco Road zum Stillstand. Er hatte hier mal gewartet, während die Feuerwehr von Millers Kill die Rettungsschere einsetzte, um drei verstümmelte Leichen aus einem Kleinbus zu bergen. Der Typ am Steuer hatte versucht, bei Schlechtwetter die Ampel zu überfahren. Er war in Russ’ Alter gewesen. »Clare«, wandte Russ sich an sie, »wenn alles in Ordnung ist, würden Sie mich dann bitte ansehen?«
    Ein heftiges Schütteln des Kopfs: Nein. »Clare?« Russ dachte daran zurück, wie er sich vor ein paar Stunden gefühlt hatte – an die Entspannung, als sie einander am Küchentisch gegenübersaßen und plauderten. »Clare, bei wem sprechen Sie sich denn aus? Das haben Sie mich gefragt, wissen Sie noch? Bei wem sprechen Sie sich aus, Clare?«
    »Das wird schon wieder.« Ihre Stimme klang gepresst. »Es war bloß ein langer –« Sie konnte nicht weiterreden. Die Ampel schaltete auf Grün. Er rührte sich nicht. »Es war bloß –«, probierte sie es erneut. »Sie erinnert mich an meine Schwester.«
    »Ihre Schwester?«, wiederholte er. »Das blonde Mädchen auf diesen Fotos bei Ihnen auf dem Tisch? Was ist mit ihr?«
    Clare drehte sich zu ihm um. Ihre Augen waren hell, ihr Gesicht eingefallen. »Sie ist tot. Dieses Thanksgiving werden’s fünf Jahre.« Sie rieb mit den Handflächen über ihr Gesicht.
    Russ konnte im Spiegel ferne Scheinwerfer sehen, die die Route 39 entlangfuhren. Er legte den Gang ein und gab vorsichtig Gas. »Sagen Sie …« Und noch während er sprach, fragte er sich, weshalb er das tat; er respektierte die Privatsphäre von Leuten mehr als die meisten, und das hier war eindeutig privater Schmerz. »Wie hieß Ihre Schwester?«
    »Grace. Sie war …« Clare hustete. »Sie war wie ein wunderschöner Christbaumschmuck. Lustig, verspielt und warmherzig. Sie war die süße kleine Schwester und ich wie ein großer Junge, der sich auskennt. Sie war die Schöne und ich die Intelligente.« Einer ihrer Mundwinkel zog sich nach oben. »Sie versuchte immer, mich mehr für Kleider, Make-up, Jungs und das ganze Zeug zu interessieren.« Clare zupfte an ihrem Lederärmel. »Diese Jacke ist von ihr. Sie hat sie mir geschenkt, als ich First Lieutenant wurde, weil sie meinte, das sähe wie etwas aus, das ein schnittiges Flieger-Ass trägt.«
    »Klingt nach einem ganz besonderen Menschen«, murmelte Russ.
    »Das war sie für uns auch«, sagte Clare. »Sie hielt sich immer im Hintergrund. Arbeitete für die Flugzeugfirma meiner Eltern als eine Art Sekretärin und Buchhalterin. ›Genug, um die Mindestbeträge für ihre Kreditkarten zu zahlen‹, hieß ihr Standardspruch. Ihr größter Wunsch war es, zu heiraten und viele Kinder zu bekommen. Und das wäre ihr auch geglückt. Sie hatte an jedem Finger einen Verehrer.« Clare lächelte – ein kleines, in sich gekehrtes Lächeln. »Sie ist als Volontärin ins örtliche Krankenhaus gegangen, um mal einen Arzt persönlich kennen zu lernen.«
    Russ wollte gar nichts mehr hören. Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn, weil er den Schluss der Geschichte schon ahnte. Er wollte keine Details wissen, damit er in seiner Brust keinen Schmerz fühlen müsste. Den Schmerz um Clare, die sich die Augen trocknete und mit leiser, belegter Stimme weitersprach.
    »Sie war vier Jahre jünger als ich. Fünfundzwanzig, als sie – als es passiert ist. Sie hatte ständig diese Unterleibskrämpfe, dachte, es wäre die Verdauung oder Blähungen. Zuletzt wurde es so schlimm, dass sogar sie zum Arzt ging.« Clare schloss ihre Augen. »Es war Dickdarmkrebs, fortgeschrittenes Stadium. Sie hatte keine Ahnung gehabt. Niemand hatte das geahnt. Niemand in unserer Familie war je an Krebs erkrankt. Morgens ging sie zu ihrer Untersuchung, und abends hatte sie ihr Todesurteil erhalten. Alles an einem Tag.«
    Russ bog nach links in die Main Street ab, und das Heck des Transporters brach leicht aus, doch er bekam es sofort wieder unter Kontrolle. Die Lichter der Geschäfte konnten das weiße Schneegestöber kaum durchdringen.
    »Ich war damals in Fort Bragg stationiert, etwa vier Stunden von daheim entfernt. Deshalb beantragte ich keinen Sonderurlaub. Grace zog wieder zu unseren Eltern, und ich besuchte sie jedes Wochenende. Eine Zeit lang glaubte ich wirklich, sie käme wieder auf die Beine. Die Therapie war sehr, sehr aggressiv, und ich dachte; Grace ist fünfundzwanzig, sie hat die bestmögliche ärztliche Behandlung, im

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