Das weiße Mädchen
plötzliche Erkenntnis hatte sie gestreift. Deutlich erinnerte sie sich ihrer ersten Begegnung mit der Erscheinung, die reglos dagestanden hatte, ohne auf ihre Rufe zu reagieren.
Taubstumm – das ist es! Sie kann sich nicht in Worten mitteilen, und das ist der Grund, warum sie dieses Theater spielt.
Vor ihrem inneren Auge erschien das seltsam alterslose Gesicht der Haushälterin, die sie auf dem ehemaligenAnwesen der Herforths getroffen hatte. Ließ sich dieses Gesicht nicht mit ein wenig Schminke leicht in die Totenmaske verwandeln, die an der Landstraße umging? Warum hatte die Frau mitten im Hochsommer ein knöchellanges Kleid und ein Kopftuch getragen – etwa zur Tarnung? Fürchtete sie, von jemandem wiedererkannt zu werden, der sie in Christines Gestalt an der Straße gesehen hatte? Wenn Leas Vermutung zutraf, stellte sich noch eine weitere Frage: Wer war die Haushälterin des ominösen Herrn Berger?
Christine?,
dachte Lea plötzlich, und der aus dem Nichts aufleuchtende Verdacht verursachte ihr eine Gänsehaut.
Unmöglich war es nicht. Christine Herforth war lediglich verschwunden, doch es hatte nie einen klaren Hinweis gegeben, dass sie ermordet worden war, abgesehen von den vieldeutigen Bildern des Comiczeichners Tom Thanatar. Wenn sie am Leben war, musste sie inzwischen etwa vierzig Jahre alt sein.
Aber sie war doch nicht taubstumm! Diese Behinderung ist angeboren. Man wacht nicht eines Tages plötzlich auf und hat seine Stimme verloren.
Es sei denn,
fiel ihr plötzlich ein,
man hat etwas so Schreckliches erlebt, dass es einem buchstäblich und dauerhaft die Sprache verschlagen hat.
Lea dachte an Zeitungsmeldungen über Menschen, die jahrelang in Isolationshaft gehalten worden waren – Tragödien, die sich meistens unter irgendwelchen Militärregierungen abspielten. Die Gefangenen kamen, sofern sie überhaupt am Leben blieben, als stumme Wracks wieder ans Tageslicht, apathisch, geistig verwirrt und kaum noch der Sprache mächtig. Gab es nicht auch Berichte über Kinder, die von geisteskranken Verwandten in geschlossenen Räumen eingesperrt worden waren? Lea erinnertesich, dass sie von solchen Fällen gelesen hatte und dass das auffälligste Merkmal der nach Jahren Befreiten – abgesehen von vollkommener Verwahrlosung – stets ihre Stummheit war.
Angenommen, Christine ist damals irgendetwas Schreckliches zugestoßen,
überlegte sie.
Angenommen, sie wurde von irgendeinem Psychopathen gefangen gehalten, konnte am Ende aber entkommen.
– Und warum gibt sie dann diese Geistervorstellung an der Straße?,
vervollständigte eine innere Stimme Leas Gedanken zu einem Dialog.
– Ganz einfach: um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen, was auch immer mit ihr geschehen ist.
– Dafür gäbe es doch wohl einfachere Möglichkeiten. Warum geht sie nicht zur Polizei?
– Sie ist stumm.
– Aber sie kann schreiben. Denk an das Pappschildchen.
– Dann gibt es nur eine mögliche Erklärung: Sie wagt nicht offenzulegen, was mit ihr geschehen ist, weil sie Angst vor dem Täter hat. Er muss also noch in ihrer Umgebung leben. Womöglich wohnt er bis zum heutigen Tag in Verchow. Und das ist auch der Grund, warum Christine sich nicht zu erkennen gibt, sondern eine falsche Identität benutzt.
Der plötzliche Fluss ihrer Gedanken machte Lea geradezu fiebrig vor Aufregung. Sie spürte deutlich, dass zumindest einige ihrer Vermutungen in die richtige Richtung zielten. Erneut startete sie den Wagen. Diesmal jedoch wendete sie nicht, sondern fuhr weiter bis zu der Einmündung, die zum Gutshaus der Herforths führte. Hier stellte sie den Wagen ab, stieg aus und tastete sich durch den nächtlichen Wald bis zum Gittertor des Hofs. Es war Vollmond, sodass die Konturen der Gebäude selbst im Dunkeln leicht zu erkennen waren. Soweit Leasehen konnte, brannte nirgends Licht. Probeweise drückte sie gegen einen der Gitterflügel, der tagsüber noch angelehnt gewesen war – nun jedoch war das Tor verschlossen.
Ob sie hier ist?,
fragte Lea sich unbehaglich. Bewohnte Christine das Haus? Oder war sie tatsächlich nur Haushälterin, hatte sich die Stelle bei dem ahnungslosen Eigentümer irgendwie erschlichen und kam nur gelegentlich, wobei sie ihre Besuche für das Geisterschauspiel an der Straße nutzte?
Wahrscheinlich Letzteres,
schloss Lea.
Sie spielt ihre Rolle nicht ständig, andernfalls wäre sie selbst an einer so einsamen Straße häufiger gesehen worden. Heute zum Beispiel war sie nicht dort. Wahrscheinlich kommt
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