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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ist.
    Eine Katze maunzte. Lea blinzelte – im selben Moment, als der Lichtkegel der Taschenlampe verlosch. Die Tür wurde wieder geschlossen. Dunkelheit senkte sich über den Raum. Schritte entfernten sich und tappten die Stufen zum Korridor hinauf. Der Lichtschalter klickte, und nun erlosch auch die Beleuchtung nebenan. Die schwere Holztür fiel ins Schloss.
    Mehrere Minuten lang kauerte Lea wie erstarrt an der Wand, legte eine Hand auf ihr heftig pochendes Herz und wagte nicht, sich zu rühren. Angestrengt lauschte sie, konnte jedoch kein Geräusch mehr hören. Offenbar war der Bewohner des Hauses zu dem Schluss gekommen, dass das nächtliche Gerumpel in seinem Keller lediglich von einer der Katzen verursacht worden war.
    In vollkommener Dunkelheit tastete Lea sich in den größeren Raum zurück, bemüht, jedes Geräusch zu vermeiden. Es war mühsam, denn sie sah nicht einmal die eigene Hand vor den Augen und fürchtete jeden Moment, gegen irgendein Möbelstück zu stoßen. Es dauerte nahezu eine Minute, bis sie die Stufen erreicht hatte und den Lichtschalter wiederfand.
    Im erneut aufflammenden Licht wirkte das Kellergewölbe seltsam übersichtlich und harmlos. Die Seitentür zu dem Kartoffelkeller, in dem Lea sich versteckt hatte, stand offen. Neben ihr am Boden hatte der unbekannte Hausbewohner die Taschenlampe abgestellt.
    Leas erster Impuls war, so schnell wie möglich zu verschwinden, dann aber siegte ihre Neugier. Sie hatte das Interieur des Anbaus bislang gar nicht gesehen, sondern die Augen geschlossen, als der Unbekannte hineingeleuchtet hatte. Was mochte sich dort drinnen verbergen? Entschlossen kehrte sie um, ergriff die Taschenlampe und trat erneut in die kühle, feuchte Luft hinter der Brettertür.
    Der Anblick ließ ihr Herz, das sich eben erst beruhigt hatte, wieder schneller schlagen. Die Taschenlampe erhellte keine ausrangierten Möbel. Stattdessen war der würfelförmige Raum bis auf eine umgestülpte Holzkiste am Boden völlig leer. Neben der Kiste stand ein sechsarmiger Kerzenleuchter, und auf ihr waren Papiere, Hefte, Fotos und sogar Schmuckstücke ausgebreitet, drapiert wie zu einem Stillleben. Lea ging in die Knie und musterte die Gegenstände. Das seltsame Gefühl überkam sie, vor einem Altar zu knien.
    Es ist tatsächlich ein Altar,
erkannte sie mit einer Mischung aus Faszination und Schauder.
    Die vergilbten Fotos, einige lose herumliegend, andere in stehenden Bildhaltern arrangiert, zeigten alle dasselbe junge Mädchen: mal im Porträtformat, mal beim Spielen im Hof, auf einem Pony reitend, mit Katzenbabys im Arm oder an der Hand ihrer Mutter. Die Bilder deckten einen Zeitraum von vielen Jahren ab, augenscheinlich vom Kindergartenalter bis zur Pubertät. Die Gesichtszüge von Christine Herforth jedoch waren stets deutlich zu erkennen. Auf den ältesten Fotos zeigte sich ein hübsches Mädchen mit dunkelblondem Lockenhaar, meist in farbenfrohen Kleidern und mit strahlendem Lächeln; die späteren dokumentierten ihre Wandlung zu einer nachdenklich bis skeptisch dreinblickenden Jugendlichen in zunehmend düsterem Outfit und mit schwarz gefärbtem Haar.
    Lea musterte die Papiere, die auf dem hölzernen Altar verteilt lagen. Sie erwiesen sich größtenteils als Schulhefte, gefüllt mit einer kindlich runden, später spitzen und zunehmend krakeligen Schrift. Lea blätterte die Hefte aufmerksam durch, begierig nach jedem Hinweis. Sie fand ganze Seiten, die nicht mit Text, sondern mit Zeichnungen bedeckt waren, wahrscheinlich aus gedankenloser Langeweile hingekritzelt. Sie verrieten ein bemerkenswertes Talent: Mit wenigen Strichen hatte Christine Personen porträtiert oder karikiert, bei denen es sich gewiss um Mitschüler oder Lehrer handelte. Andere Zeichnungen zeigten düstere Szenarien, zumeist stilisierte Friedhofsansichten mit kunstvoll verschnörkelten Grabsteinen, gotischen Säulen und Wasserspeiern in Dämonengestalt.
    Die Begabung muss von ihrem Vater herrühren,
vermutete Lea. Während jedoch Martin Herforth idyllische Landschaftsbilder in Öl malte, hatte seine Tochter mit Bleistift und Kugelschreiber schaurige Kulissen wie für einen Horrorfilm entworfen. Lea blätterte weiter – und stieß auf ein loses Blatt, das mit einer Art Gedicht bekritzelt war.
    Wie sollst du es sonst ertragen?
    Die Dummheit, die Heuchelei,
    die Feigheit der Spießer, die nichts wagen
    Lehrer, Eltern, Polizei.
    So vernagelt, so verlogen,
    brave Hunde an der Leine
    Fernsehshows sind ihre Drogen
    Koks ist

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